Lateinamerika Die stille Seite der Krise – Massen-Flucht aus Venezuela

Caracas · Im Hintergrund des politischen Ringens vollzieht sich ein Exodus: Drei Millionen Venezolaner haben ihr Land schon verlassen. Ein Problem für die ganze Region.

     Junge Venezolaner warten an der Grenze zu Kolumbien, um ihre Heimat zu verlassen. Drei Millionen Landsleute haben das bereits getan – rund zehn Prozent der Bevölkerung.

Junge Venezolaner warten an der Grenze zu Kolumbien, um ihre Heimat zu verlassen. Drei Millionen Landsleute haben das bereits getan – rund zehn Prozent der Bevölkerung.

Foto: AP/Fernando Llano

Ihren ältesten Sohn hat Socorro Mora irgendwann schweren Herzens ziehen lassen. Cristian Mora war 20 und ohne Perspektive im Venezuela des Nicolás Maduro, wo die Hyperinflation die kargen Löhne frisst. Es zog den gelernten Motorradmechaniker nach Kolumbien, in das Land, aus dem seine Mutter vor Jahrzehnten selbst nach Venezuela kam. Damals war der Ölstaat ein prosperierendes Land, bot Arbeit und Auskommen. „Nie hätte ich gedacht, dass wir mal selbst darüber nachdenken, hier wieder wegzugehen“, sagt Socorro Mora. Doch schon seit Jahren reicht nicht mehr, was sie als Hausmeisterin und ihr Mann Mauricio als Taxifahrer verdienen. Dazu drei Söhne. Sohn Cristian lebt seit zwei Jahren in Bogotá, hat Arbeit als Mechaniker gefunden und schickt seinen Eltern jeden Monat ein paar Dollars.

José Quintero hat vor knapp zwei Jahren das Weite gesucht. Es war eine Frage von Leben oder Tod. Quintero war Aktivist in Catia, einem der größten Armenviertel in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Seine Organisation „Pro Catia“ machte Basisarbeit, aber war kritisch mit der Regierung. Quintero, heute 60, wurde von den Colectivos, den paramilitärischen Motorrad-Gangs der Regierung, verprügelt und bedroht. Freunde in den USA schickten ihm ein Flugticket. Seit 2017 lebt Quintero in Knoxville, Tennessee.

Zwei Geschichten, die für Millionen andere stehen. Wer in diesen aufgewühlten Tagen mit den Menschen in Venezuela redet, hört die immer gleichen Erzählungen von Migration, Exil, von der Suche nach Perspektiven. Mittlerweile hat fast jeder Venezolaner einen Verwandten oder Bekannten „draußen“. Drei Millionen haben ihr Land in den vergangenen Jahren verlassen – wegen Hungers, Hoffnungslosigkeit oder politischer Verfolgung. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung.

Die Flüchtlingskrise ist die stille Seite des Dramas in Venezuela. Das Land blutet aus, erst gingen Ingenieure, Ärzte, Unternehmer, Journalisten. Dann ging der Rest der Mittelschicht, weil es zum Leben nicht mehr reichte. Inzwischen laufen dem Regime und seinem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ sogar die einstmals treusten Anhänger davon – die Armen.

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat sich die große Mehrheit der Flüchtlinge auf Lateinamerika verteilt. Insgesamt 2,4 Millionen, allein eine Million davon in Kolumbien, 500 000 in Peru, 220 000 in Ecuador. Die Staaten der Region „haben in lobenswerter Weise die Türen für die venezolanischen Flüchtlinge geöffnet“, sagt der UNHCR-Sonderrepräsentant für die Flüchtlingskrise, Eduardo Stein. „Aber viele Länder geraten jetzt an ihre Grenzen, und es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung der internationalen Gemeinschaft“.

Längst hat sich die Flüchtlingskrise zu einem regionalen Problem entwickelt. Allein in Kolumbiens Hauptstadt Bogotà kommen täglich bis zu 120 Flüchtlinge an. Oft zu Fuß, ausgezehrt und ausgehungert. In Kolumbien erhalten sie eine Aufenthaltsgenehmigung für zwei Jahre und können eine Arbeitserlaubnis beantragen. „Wir haben die Venezolaner bei uns mit Zuneigung und Brüderlichkeit aufgenommen“, sagte Staatschef Iván Duque vergangene Woche bei einem Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Dieser würdigte die humanitären Anstrengungen Kolumbiens. Gerade weil Deutschland die Erfahrung einer Flüchtlingskrise kenne, „nötigt uns Ihre Leistung Respekt ab“, sagte er. Doch inzwischen ist nicht nur Kolumbien am Rande der Belastbarkeit angekommen, es kommt zu Unmut und gewalttätigen Zwischenfällen.

Auch wenn das Ende des Regimes Maduro nahe scheint, geht der Exodus weiter. Auch Socorro Mora verliert allmählich die Geduld. „Ich hatte all meine Hoffnung in Juan Guaidó gesetzt“, sagt sie. „Aber jetzt dauert der Machtkampf schon über einen Monat, und es ist keine Besserung in Sicht.“ Wenn das Elend nicht bald ende, will auch die 42-Jährige nach Kolumbien gehen. Aktivist Quintero hingegen sitzt in Tennessee schon auf gepacktem Koffern. „Wenn Maduro fällt, gehe ich zurück. Ich will Venezuela wieder mit aufbauen.“

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