Die Stadt der Zukunft entsteht im Jetzt

Links Fische, rechts Gemüse: Nicolas Leschke (36) läuft in Wanderschuhen von den Wassertanks in den anderen Teil der Halle, ins Gewächshaus. Zusammen unter einem Dach sollen hier Barsche und Tomaten, Salat oder Paprika gedeihen.

 Seit dem Sommer 2013 können Völklinger auf dem Platz Ars-Sur-Moselle Kräuter und Gemüse aus den Hochbeeten ernten. Foto: Jenal

Seit dem Sommer 2013 können Völklinger auf dem Platz Ars-Sur-Moselle Kräuter und Gemüse aus den Hochbeeten ernten. Foto: Jenal

Foto: Jenal

Dieses Zukunftsprojekt entsteht auf dem Gelände einer ehemaligen Malzfabrik in Berlin, nahe dem Bahnhof Südkreuz. Leschke zeigt auf lange Pflanztische. Er erzählt von elektronisch gesteuerten Systemen für Wärme und Wasser. Computertechnik soll helfen, das Aufziehen von Öko-Gemüse und Barschen so zu kombinieren, dass auf kleinstem Raum wassersparend und ohne Boden produziert wird. Und zwar dort, wo die Menschen dicht gepackt wohnen: in der Stadt. "Wir revolutionieren nicht die Lebensmittelproduktion, aber wir werden eine Ergänzung zur traditionellen Landwirtschaft", prophezeit der Mitgründer der Stadtfarm ECF. Leschke ist Teil eines größeren Wandels: Das Thema "Stadt der Zukunft" beschäftigt Unternehmer, Forscher und Politiker in verschiedensten Bereichen.

Wissenschaftler entwickeln Konzepte für mehr Elektroautos, um Lärm und Abgase zu stoppen. Andere basteln am schnellen Internet, damit Kühlschränke selbstständig Bestell-Listen an Läden schicken können. Vieles, was in den kommenden zehn bis 20 Jahren auf uns zukommt, ist in den Metropolen schon spürbar. Etwa beim Boom des Teilens ("Sharing") von Wohnungen, Autos und Büros . Anderes bewegt sich eher im Bereich von Visionen. Das Bundesforschungsministerium hat 2015 unter das Motto "Zukunftsstadt" gestellt, um das Thema breiter zu diskutieren. Einige zentrale Trends:

Anders fahren: Staus, Lärm und Abgase haben zuletzt so zugenommen, dass vielerorts neue Lösungen her müssen. Carsharing-Modelle, wo Wagen geteilt und gemietet statt besessen werden, erleben seit einiger Zeit einen Boom. Elektro-Mobilität ist ein anderes, viel diskutiertes Stichwort: Ziel der Bundesregierung ist, dass bis 2020 eine Million Elektrofahrzeuge auf den Straßen rollen. Der Ausbau der Fahrradwege ist eine andere Antwort.

Andere Auto-Technik: "Die Zukunft liegt aber nicht in autofreien Städten, sondern in fahrerlosen Autos, die gleichzeitig geräuscharm und sauber sind", schreibt der Architekt Andreas Klok Pedersen (Kopenhagen) in der Zeitschrift "Technology Review". Seine Idee: ein intelligenter Straßenbelag mit programmierbaren Sensoren. Diese Technik hilft, autonome Wagen zu lenken. Zugleich wandelt sich die Fläche je nach Bedarf - etwa durch Farbänderung - von der Autospur zum Fußgängerweg. Beim Auto ohne Fahrer rechnen viele mit einer schrittweisen Entwicklung: Professor Hans-Jörg Bullinger von der Fraunhofer-Gesellschaft erwartet, dass Autos anfangs in Parkhäusern alleine rollen werden. In acht bis zehn Jahren, sagt der Zukunftsforscher Sven Gabor Janszky (Leipzig), würden dann in den Großstädten zunächst Taxis durch selbstfahrende Autos ersetzt. So bleibt Zeit, vernetzte Roboter-Autos noch sicherer zu machen als bisherige Testwagen.

Selbst pflücken: "Tomaten statt Tulpen in öffentlichen Grünanlagen" - mit diesem Modell wurde die Stadt Andernach in Rheinland-Pfalz seit 2010 zum Vorbild. Bürger dürfen sich dort kostenlos an Obst und Gemüse bedienen. Mehrere Dutzend "Essbare Städte" zählt eine Internetseite inzwischen. Eine davon ist Völklingen, wo Mitarbeiter des Zentrums für Bildung und Beruf Saar (ZBB) seit Juli 2013 Mangold, Radieschen, Zucchini und mehr in Beeten auf dem Platz Ars-Sur-Moselle pflanzen. "Die Völklinger nehmen das Angebot sehr gut an", sagt Hans-Martin Derow, Abteilungsleiter beim ZBB. Weitere Garten-Projekte seien in Kindergärten und Schulen geplant, ebenso ein Netzwerk in der Großregion: Die bestehende Kooperation mit Vorbild Andernach soll um Sarreguemines und Luxemburg erweitert werden. In jeder Region soll es mindestens einen Bürgergarten geben. Andernorts legen Privatleute und Initiativen auf Dachterrassen Gemüsegärten an oder ziehen gleich einen ganzen Stadtbauernhof hoch, wie im Saarbrücker Stadtteil St. Arnual.

Anders bauen: Auch wenn das Grün in Metropolen zu sprießen scheint: Viele Experten sehen Hochhäuser als Trend in Ballungsräumen: "Verdichtung und Wachstum werden große Themen. Wir vermuten, dass in der Folge wieder mehr in die Höhe gebaut werden wird. Gleichzeitig wird der Streit um Freiflächen an Schärfe gewinnen", sagen Wolfram Putz und Thomas Willemeit, zwei Geschäftsführer des Architekten-Büros Graft in Berlin.

Anders produzieren: Lange Transportwege für Waren vermeiden und mit der Enge arbeiten, das sind Ziele von kommerziellen Stadtfarmen wie ECF. Einen etwas anderen Weg gehen die Gründer von Infarm: Sie entwickeln in einem Berliner Hinterhof Konzepte, wie Mini-Gemüse und Kräuter auf kleinstem Raum in städtischen Gebäuden angebaut werden können, ob in Restaurants oder Duschkabinen . Auch ihr Modell funktioniert ohne Erde - mit Licht, Luft und Wasser, erläutert der aus Israel kommende Gründer Erez Galonska. Andere Trendsetter der Urban-Farming-Bewegung nutzen Dächer und Brachen.

Selbst machen: Do-It-Yourself ist nicht nur beim Gärtnern angesagt, sondern zunehmend beim Stadtleben insgesamt: Menschen bauen Boule-Plätze oder stellen Sitzbänke in Spielstraßen auf. "Wenn Anwohner in ihrem Lebensumfeld selbst aktiv werden und Verantwortung übernehmen für den Platz vor der eigenen Haustüre, steigt die Identifikation mit dem Ort - der eigenen Straße, dem Viertel", beobachtet Autorin Laura Bruns (29, "Stadt selber machen"). Bei den Entscheidungen von Politik und Verwaltung ist es nach Einschätzung vieler Forscher ähnlich: Stadtbewohner wollen gefragt werden und bei Projekten - etwa Bauvorhaben - verstärkt mitbestimmen.

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