Die Russen wollen eine Wahl Massenproteste gegen Wladimir Putin

Moskau. Viktoria Wastschenko hat ihre Kinder mitgebracht. "Mama", sagt der fünfjährige Sohn, "schau mal, die da hinten haben auch weiße Bändchen, so wie wir. Und da und da und da, überall weiße Bändchen, das ist schön." Der Kleine trottet hinter seiner Mutter, zieht seine Schwester hinterher. Um die Familie herum flattern Fahnen, in Orange, in Blau, in Rot

Moskau. Viktoria Wastschenko hat ihre Kinder mitgebracht. "Mama", sagt der fünfjährige Sohn, "schau mal, die da hinten haben auch weiße Bändchen, so wie wir. Und da und da und da, überall weiße Bändchen, das ist schön." Der Kleine trottet hinter seiner Mutter, zieht seine Schwester hinterher. Um die Familie herum flattern Fahnen, in Orange, in Blau, in Rot. Die Menschen klatschen, sie schlagen auch mal die Trommel, singen Lieder - und sie schreien: "Russland ohne Putin!" oder "Wir sind die Macht!"Es sind die immer gleichen Slogans, mit denen Russlands Unzufriedene auf die zentralen Plätze ihrer Städte ziehen. Sie wollen vor allem eins: mitbestimmen, was in ihrem Land passiert, Verantwortung übernehmen, eine Wahl haben. Auch gestern kamen wieder Zehntausende ins Zentrum Moskaus, trotz Regen und trotz der Drohkulisse, die der Staat bereits seit Tagen aufbaut. Von 100 000 Teilnehmern sprach die Opposition, von 22 000 die Polizei. Die Wahrheit, sie liegt irgendwo dazwischen.

Klar ist aber eines: Die Menschen haben sich nicht abschrecken lassen, nicht von dem in aller Eile unterzeichneten Demonstrationsgesetz, nicht von den Razzien bei führenden Oppositionellen noch am Vortag der Kundgebung, und auch nicht von 12 000 Polizisten, die sich in den Straßen postiert haben. Es ist ein friedliches Familienfest an diesem "Tag Russlands", an dem das Land seine Souveränität feiert, und der Putin zeigt, dass er auch in Zukunft mit den selbstbewussten Bürgern rechnen muss, selbst wenn er sich in seiner Festrede zum Nationalfeiertag von den Protesten unbeeindruckt präsentiert und meint: "Für uns ist alles inakzeptabel, was dem Land schadet und die Gesellschaft spaltet." Gespalten ist die russische Gesellschaft aber längst, die innenpolitische Krise offenbart sich bereits seit Monaten.

"Bisher habe ich mit den Kindern immer zu Hause gesessen, während mein Mann gegen Putin demonstriert hat", sagt Viktoria Wastschenko. "Jetzt aber reicht es. Ich gehe vor allem für meinen Sohn und meine Tochter auf die Straße, will, dass sie in einem freien, gerechten Land aufwachsen, dessen Führung die Gesetze achtet und sie nicht nach ihrem eigenen Gutdünken verbiegt." Das sagen viele an diesem Tag. Linke wie Rechte, Liberale, Kommunisten, Homosexuelle, Punker, Studenten, Unternehmer und Rentner. Sie laufen durch die Straßen und Parks, immer von Polizisten in Feieruniform beäugt. "Sie tragen ja weiße Hemden, wie passend", mokiert sich ein Demonstrationsteilnehmer über die Sicherheitskräfte. Er bietet einem Polizisten ein weißes Bändchen an, der Staatsdiener schaut weg. Weiß ist das Symbol der Anti-Putin-Bewegung.

Die meisten Anführer der Opposition aber verbringen den Tag bei Befragungen in Russlands zentraler Ermittlungsbehörde, sie sollen zu den massiven Ausschreitungen am 6. Mai aussagen, wegen etlicher Provokationen - sowohl vonseiten der Polizei als auch vonseiten der Demonstranten - waren damals mehrere Menschen verletzt worden. Einer aber kommt dennoch zur Kundgebung: Sergej Udalzow, der Kopf der Linken Front und Mitorganisator der Protestaktion, steht auf der Bühne und fordert bereits den nächsten "Marsch der Million", der 7. Oktober - Putin wird an diesem Tag 60 Jahre alt - fiele ihm da ein. Zu der Vernehmung habe er seine Anwältin geschickt, erklärt er. Doch auf der Bühne bekommen er und sein Mitstreiter, der frühere Vizeregierungschef Boris Nemzow, erneut eine Vorladung überreicht. Am Abend sitzen sie beim Ermittlungskomitee. Derweil kämpfen einige liberale Medien wie der Fernsehsender "Doschd" und die kremlkritische Zeitung "Nowaja Gaseta" gegen Hackerangriffe.

"Unser Land ist in eine Sackgasse geraten und braucht neben Verbesserungen in der Bildung und im Gesundheitswesen vor allem eine durchgreifende politische Reform", sagt Viktoria Wastschenko, während sich ihr Sohn an sie klammert. "Besser als auf der Datscha zu sitzen, ist der Protest allemal."Berlin. An diesen Kundgebungen haben mindestens 10 000 Demonstranten teilgenommen.

4. Februar 2012: Vier Wochen vor der Präsidentenwahl mobilisieren Gegner und Anhänger Putins bei Protesten insgesamt 230 000 Menschen. In der zweitgrößten Stadt St. Petersburg gehen nach Angaben der Organisatoren 30 000 Menschen gegen Putin auf die Straße. Das Putin-Lager bringt es nach Angaben der Polizei auf 138 000 Unterstützer.

18. Februar 2012: Zwei Wochen vor der Präsidentenwahl bringt das Putin-Lager bei Kundgebungen in mehreren Städten Zehntausende auf die Straße. Medien hatten wiederholt berichtet, dass Demonstranten für ihre Teilnahme unter Druck gesetzt worden seien.

5. März 2012: Am Tag nach der Präsidentenwahl protestieren nach Angaben von Kreml-Kritikern rund 20 000 Putin-Gegner in Moskau gegen das Ergebnis. Bei einer zweiten, nicht genehmigten Kundgebung werden mindestens 100 Putin-Gegner verhaftet, bei einer Demonstration in St. Petersburg 70.

6. Mai 2012: Einen Tag vor der Amtseinführung Putins gehen bei einer Kundgebung Polizeieinheiten gegen gewaltbereite Regierungsgegner vor. Es gibt mindestens 27 Verletzte und Hunderte Festnahmen. In Gewahrsam kommen auch Ex-Vize-Regierungschef Boris Nemzow und der Internetblogger und Anwalt Alexej Nawalny. Mehr als 100 000 Menschen nehmen nach Organisatoren-Angaben an den Protesten teil.

13. Mai 2012: Mit einem nicht genehmigten Marsch ohne Plakate und Parolen demonstrieren in Moskau etwa 10 000 Menschen gegen die Polizeigewalt bei den Kundgebungen. Zuvor waren Hunderte Menschen festgenommen worden.

5. Juni 2012: Das von der Kremlpartei Geeintes Russland dominierte Parlament, die Staatsduma, beschließt eine Verschärfung des Versammlungsgesetzes. Das Gesetz tritt vor der nächsten Demonstration in Kraft, die Putin-Gegner für den 12. Juni planen. Die Opposition spricht vom letzten Schritt in den Polizeistaat. dpa

"Unser Land ist in eine Sackgasse geraten und braucht eine

politische Reform."

Viktoria Wastschenko

Hintergrund

Das neue Versammlungsgesetz in Russland gilt seit dem 9. Juni und verschärft die Strafen für Verstöße bei Demonstrationen drastisch. Privatpersonen können mit bis zu 300 000 Rubel (rund 7300 Euro) belangt werden, Organisationen mit bis zu einer Million Rubel. Bisher lag die Höchststrafe bei "lediglich" 2000 Rubel.

Als Verstöße gelten tätliche Gewalt und Vermummung, aber auch die Behinderung des Straßenverkehrs oder das Betreten von Grünflächen. Nach Ansicht der Befürworter trägt das Gesetz zu Sicherheit und Ordnung im Land bei. Bürgerrechtler kritisieren es hingegen als Einschränkung des Rechts auf Versammlungsfreiheit. dpa

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