Die rosa Stadt trägt Trauer "Wir sind machtlos bei Wahnsinnstaten"

Paris/Toulouse. "Worte, ich habe keine Worte", sagt ein Passant zu der Fernseh-Reporterin, die doch genau das von ihm will: Eine anschauliche Aussage über seine Gefühle, nachdem am Vortag hier in seiner Nachbarschaft, vor der jüdischen Ozar-Hatorah-Schule in Toulouse, ein Unbekannter vier Menschen, darunter drei Kinder, getötet und einige weitere verletzt hat, bevor er floh

Paris/Toulouse. "Worte, ich habe keine Worte", sagt ein Passant zu der Fernseh-Reporterin, die doch genau das von ihm will: Eine anschauliche Aussage über seine Gefühle, nachdem am Vortag hier in seiner Nachbarschaft, vor der jüdischen Ozar-Hatorah-Schule in Toulouse, ein Unbekannter vier Menschen, darunter drei Kinder, getötet und einige weitere verletzt hat, bevor er floh.Auch am Tag nach dieser "nationalen Tragödie", wie Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sie nennt, versuchten die Kameras das Grauen einzufangen, das die Schüler, Eltern, Lehrer am Montagmorgen hier erlebten. Bilder, die Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit zeigten, aber auch große Anteilnahme. Um elf Uhr hielten alle Schulen des Landes in einer Schweigeminute inne. Die "rosa Stadt", wie Toulouse wegen seiner zartrosa Häuserfassaden genannt wird, sonst bekannt für sein quirlig-studentisches Flair, trägt Trauer. Der Wahlkampf ist für einige Tage ausgesetzt. Es gehe jetzt nicht um Politik, sagen die Politiker.

Betroffenheit hat sich über das Land gelegt, über eine ebenso grausame wie sinnlose Tat und einen Mörder, der kühl und methodisch vorging. Nicht nur am Montagmorgen, wie man inzwischen weiß, sondern auch schon bei zwei vorhergehenden Anschlägen in der Region, bei denen er insgesamt drei Fallschirmjäger, alle nordafrikanischer Abstammung, erschoss - ebenfalls am helllichten Tag. Folgt nun ein Attentat alle vier Tage? Auf wen zielt er als Nächstes? Die Menschen haben Angst vor dem Unberechenbaren, den die Medien den "Mann ohne Gesicht" nennen. "Wir sind extrem beunruhigt", erklärt Bürgermeister Pierre Cohen. Er hat den für heute geplanten Karneval abgesagt. Aus Respekt - und aus Vorsicht. Zum ersten Mal hat Sarkozy die höchste Terror-Alarmstufe für die südwestfranzösische Region Midi-Pyrénées ausgerufen. In Bussen und Bahnen wird verstärkt kontrolliert, die Polizisten patrouillieren schwer bewaffnet auf den Straßen. Jüdische und muslimische Einrichtungen im ganzen Land werden besonders gesichert. Derweil läuft die Großfahndung gegen Frankreichs "Staatsfeind Nummer eins" auf Hochtouren; die Pariser Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Terrorismus. Motiv und Identität des Täters blieben auch gestern unklar, ebenso ob er alleine oder in einer Gruppe handelte. Zeugen beschreiben den Mann als mittelgroß und korpulent, der am Montagmorgen auf einem Motorroller vor der Schule vorfuhr, in Ruhe parkte, den Religionslehrer Jonathan Sandler und seine beiden Söhne niederschoss. Im Schulhof hielt er die kleine Myriam, die Tochter des Direktors, an den Haaren fest und schoss ihr direkt in den Kopf, feuerte wahllos weiter und verletzte einen 17-jährigen Schüler. Laut Innenminister Claude Guéant trug der Todesschütze eine kleine Kamera um den Hals. Die Leichen der vier am Montag getöteten Menschen sollten gestern noch nach Israel überführt werden, wo sie beigesetzt werden. Guéant bestätigte außerdem, dass es sich sowohl bei dem gestohlenen Motorroller als auch bei der Tatwaffe um dieselbe handelte wie bei den Soldaten-Morden in der Woche zuvor. Am 11. März hatte der Unbekannte den aus Marokko stammenden Unteroffizier Imad Ibn Ziaten erschossen und vier Tage später drei junge Soldaten vom 17. Fallschirmspringerregiment in Montauban, 50 Kilometer nördlich von Toulouse. Die Truppe wird auch in Afghanistan eingesetzt. Das nährt Spekulationen, die Mordserie sei ein politisch motivierter Racheakt für das militärische Engagement Frankreichs, und auch die Politik Israels. Die Zielsicherheit des Schützen erhöht den Verdacht, es könne sich um ein (ehemaliges) Militärmitglied handeln. Die Spur, es könne sich um ein ehemaliges Mitglied eben des 17. Fallschirmjägerregiments handeln, das 2008 in einen Skandal wegen neonazistischen Aktionen verwickelt war, bestätigte sich gestern jedoch nicht.Forbach. "Die Schandtat" prangt auf der Titelseite des "Républicain Lorrain". Der Attentäter hat im mehr als 1000 Kilometer entfernten Toulouse geschossen, doch die Morde belasten die Forbacher. Sie versuchen, das Unfassbare in Worte zu fassen, etwa in der Bäckerei "La Pause Gourmande". "Das Attentat hat mich schockiert und mir vor Augen geführt, dass wir bei Wahnsinnstaten machtlos sind", sagt Verkäuferin Catherine. "Ich mache mir Sorgen um meine Verwandten in der Nähe von Toulouse." Die Angst steckt in den Köpfen, auf den Forbacher Straßen ist alles wie vorher. Polizisten patrouillieren verstärkt - aber schon seit Wochen, weil in Brennpunkten Autos gebrannt haben.

Auch Bürgermeister Laurent Kalinowski lassen die Morde von Toulouse nicht los: "Die Tat hat unser Land erschüttert." Es handele sich wohl um einen Einzeltäter, das Motiv sei noch unklar, daher dürfe man bei der Ursachenforschung nicht verallgemeinern. Trotzdem mache das Attentat auf wunde Punkte in der Gesellschaft aufmerksam: "Es gibt eine gewisse Verrohung - der wir alle entgegenwirken müssen. Im Wahlkampf zum Beispiel sollten die Politiker auf rechtspopulistische Parolen verzichten, die unser Land spalten. Wir müssen enger zusammenrücken."

Yanis, der das Collège Jean Moulin in Forbach besucht, hat mit seiner Klasse um elf Uhr eine Schweigeminute eingelegt: "Die armen Kinder. Hoffentlich wird der Täter schnell geschnappt und gerecht bestraft", sagt der 16-jährige Sohn einer Französin und eines Marokkaners. Auch wenn sich das Attentat nicht damit erklären lasse - Rechtspopulismus schüre Hass: "Minderheiten werden als Feinde dargestellt. Die Politiker sollen aufhören, uns für Wahlkampf zu missbrauchen." gha

Foto: gha

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