Die pure Lust am schnellen Laufen

Schiffweiler · Der Mann ohne Socken – so schrieb Werner Dörrenbächer Sport-Geschichte. Der Saarländer gehörte beim Marathon über ein Jahrzehnt lang zur Weltelite. Stoppen konnten ihn damals nur „robuste Kräfte“.

 Stets auf der Jagd nach der Bestzeit: Werner Dörrenbächer trainierte akribisch, um zur Weltelite im Marathon zu gehören. Heute lässt es der Saarländer auch mal ruhiger angehen. Fotos: Ruppenthal/Privat

Stets auf der Jagd nach der Bestzeit: Werner Dörrenbächer trainierte akribisch, um zur Weltelite im Marathon zu gehören. Heute lässt es der Saarländer auch mal ruhiger angehen. Fotos: Ruppenthal/Privat

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Wenn sich Spitzensportler an goldene Jahre erinnern, wird es blumig. Wer lauscht auch nicht gern beispielsweise den Erzählungen einstiger Fußball-Helden, die in entbehrungsreichen Nachkriegsjahren auf Wiesen selbst genähten Bällen nachjagten und trotzdem oder gerade deshalb Weltmeister wurden? Die haben für ihre Zeit mehr geleistet als die verhätschelten Profis heute, soll sich das Publikum hinzudenken.

Wer mit Werner Dörrenbächer über Marathonlauf redet, der hört keine Verklärung. Der beste Langstreckenläufer , den das Saarland je hervorbrachte, ist der Letzte, der auftragen würde; philosophieren und spekulieren sind dem eher scheuen und introvertierten Mann fremd. Ob früher alles besser oder doch schlechter war? Kein Gedanke.

Werner Dörrenbächer aus Schiffweiler-Stennweiler, am 5. Oktober 60 Jahre alt geworden, sieht sein läuferisches Lebenswerk so: Er ist in seinen besten Jahren mit den Möglichkeiten der Zeit so schnell gelaufen, wie er nur konnte: 2:12:22 Stunden im Marathon von Essonne bei Paris am 16. März 1980. Basta. Damals war das deutscher Rekord, der drei Jahre hielt und bis heute einen Top-20-Platz in der ewigen Bestenliste bedeutet. Die meisten joggenden Menschen sind glücklich, wenn sie in dieser Zeit den Halbmarathon packen.

Als der Kenianer Dennis Kimetto am letzten September-Sonntag 2014 in Berlin den Marathon in Weltrekordzeit von 2:02:57 Stunden rannte, da freute sich der Analytiker Dörrenbächer - typisch - zunächst über den Service des Fernsehens, Zwischenzeiten des Führenden auf die Endzeit hochzurechnen. Wozu braucht es einen Moderator, der sich Erkenntnisse aus Gesichtszügen der Läufer zusammenreimt? Dörrenbächer will Fakten. Den Rest denkt er sich selber.

Wer so bodenständig strukturiert ist, dem mag die eine oder andere Freude im Leben entgehen. Er schützt sich aber auch vor Enttäuschungen. Polizist Werner Dörrenbächer hatte in Essonne die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1980 in Moskau erlaufen, er sollte die Bundesrepublik im Marathonrennen vertreten. Doch weil die UdSSR in Afghanistan einmarschierte, boykottierte der Großteil der westlichen Nationen die Spiele, darunter auch Deutschland. Der kleine Amateur wurde, als Opfer der großen Politik, um eine Olympiateilnahme gebracht. "Robustere Kräfte verhinderten den Start", heißt es diplomatisch auf der Urkunde, die Willi Daume , seinerzeit Chef des Nationalen Olympischen Komitees, den zwangsweise Daheimbleibenden zukommen ließ. Es gewann in Moskau der DDR-Held Waldemar Cierpinski in einer 2:11er Zeit.

Dörrenbächer hätte es womöglich auch in diese Region geschafft. Der Gedanke an eine verpasste Chance beschäftigt ihn allerdings nicht. Die Sache ist abgehakt. Es zählt für ihn aber dies: Am Jahresende 1980 kam es im japanischen Fukuoka zu einem Marathon der Weltelite, bei dem Cierpinski und Dörrenbächer dann doch aufeinandertrafen. Gemeinsam waren sie in Richtung 2:12 Stunden unterwegs - bis dem Saarländer der rechte große Zeh "platzte". Heftig aus dem Schuh blutend (er lief immer ohne Socken) und fast ohnmächtig vor Schmerz musste Dörrenbächer den Konkurrenten ziehen lassen, erreichte aber mit 2:14:50 Stunden noch eine grandiose Zeit. Es war vielleicht der bemerkenswerteste seiner vielen spektakulären Wettkämpfe, bei denen er die Farben der Nation und seines damaligen Vereins Saar 05 Saarbrücken über Jahre in der ganzen Welt vertrat.

Was von dem Ausnahme-Athleten Dörrenbächer vor allem in Erinnerung bleibt, sind sein erstaunliches Durchhaltevermögen und seine Leistungsbereitschaft. Wie kein zweiter Läufer von der Saar vermittelte er den Eindruck, es gehe ihm um die pure Lust am ästhetischen Dahineilen, ums Laufen um des Laufens willen. Der 1,72 Meter große und idealerweise 60 bis 62 Kilo leichte Athlet mit dem extrem langen Schritt rannte, weil er es so gut konnte. Nicht weil man ihm einredete, er solle es zu irgendeinem Ziel machen. Reinheit! Kunst!

Dörrenbächer war als Heranwachsender ein herausragender Skilangläufer gewesen. Laufen betrieb er zunächst nur als Ergänzungssport. Von einem Lehrer auf die 1000-Meter-Strecke geködert, rannte er ohne Spikes 2:43 Minuten. Im Verein wollte man ihn zum Stadion-Mittelstreckler aufbauen. Der geborene Langstreckler verweigerte und formte sich autodidaktisch zum Marathon-Mann. Werner Dörrenbächer motivierte sich sage und schreibe fast zwölf Jahre lang zu einem Training auf höchstem Niveau mit Wochenumfängen zwischen 200 und 280 Kilometern. 50-Kilometer-Bahnläufe in drei Stunden empfand er als beschwingend. Samstags lief er auf den Landstraßen, manchmal vom Bundestrainer auf dem Fahrrad begleitet, noch weitere Distanzen. Mit diesen Trainingszeiten würde er auch 2014 unangefochten Saarlandmeister im Marathon werden. "Heute sind die Sportler nicht mehr bereit, sich so einem mehrstündigen Training zu unterziehen", beschreibt er die Misere, dass deutsche Marathonläufer international hinterherhinken. Für sein gesamtes Laufleben hat er akribisch über 220 000 Kilometer mit Zeiten dokumentiert.

Für den Weltklasse-Marathon-Polizisten Dörrenbacher gab es in den 1970er und 80er Jahren nicht die Sportförderung von heute. Morgens ließ man ihn seiner Wege laufen, mittags leistete er Dienst bei der Bereitschaftspolizei. Um an die ganz Großen der Welt heranzukommen, gingen die Freiheiten vielleicht nicht weit genug. Gleichzeitig gab es immer Neider, die hinter vorgehaltener Hand kritisierten, dass "der Werner den halben Tag herumläuft" - alles andere als angenehm für einen sensiblen Charakter, der das klare offene Wort bevorzugt. Im Winter 1983/84 belegte er auf eigene Kosten ein Trainingslager in Gran Canaria, um noch mal an die Weltspitze und zu Olympischen Spielen zu kommen. "Als ich zurück war, schickte mich die Polizei auf einen mehrwöchigen Lehrgang - das war dann das Aus", erinnert er sich. 1987 gelang in Hamburg in 2:17 Stunden ein sehr guter Wettkampf, doch der Zenit im Marathon war überschritten. In der Weltklassezeit von 6:34:45 Stunden wurde Dörrenbächer in jenem Jahr noch erster deutscher Meister im 100-Kilometer-Lauf, 1990 kam der Abschied vom Spitzensport. Nach einer Hüftoperation läuft er heute kaum mehr, ist aber auf Mountainbike und Rollskiern ein Könner.

Werner Dörrenbächer hat nach der Karriere vielen Freizeitsportlern mit seiner Erfahrung zur Seite gestanden, den Behindertensport, den Gesundheitssport und wohltätige Veranstaltungen gefördert, Polizeimannschaften bei Firmenläufen gecoacht oder dem Saarbrücken-Marathon als sportlicher Leiter in die Gänge geholfen. Eine Rampenlicht-Zweitlaufbahn als Buchautor, Moderator, Funktionär oder gar Sport-Promi war ihm aber nicht vergönnt und würde wohl auch nicht zu seiner zurückhaltenden Art passen. "Ich wollte nie so im Mittelpunkt stehen, sondern habe das Feld lieber anderen überlassen", sagt der Athlet, dessen Leben halt die 42,195 Kilometer auf der Straße waren und der nach 42 Dienstjahren an diesem Wochenende als Oberkommissar in den Ruhestand wechselt. Da er immer sparsam war und sich einer stabilen Gesundheit erfreut, darf er von einem weiteren langen Lebensabschnitt träumen - zusammen mit seiner Frau in einem sonnigen Land. Als Abschiedsgruß an die Läufer der Heimat vielleicht noch so viel aus seinem Mund: "Werdet nicht verbissen, denkt an die Zeit danach, Leistungssport ist nicht gesund."

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