Altenpflege Die neue Regierung und der Pflegenotstand

Berlin · Wenn die Groko kommende Woche an den Start geht, hoffen sie in der Altenpflege auf Linderung ihrer Not.

 Zu wenig Personal, zu wenig Zeit für die Pflegebedürftigen: Die Altenpflege schlägt Alarm – seit Langem.

Zu wenig Personal, zu wenig Zeit für die Pflegebedürftigen: Die Altenpflege schlägt Alarm – seit Langem.

Foto: dpa/Matthias Benirschke

Die Kanzlerin bekam einen drastischen Einblick. „Es gibt Menschen, die liegen stundenlang in ihren Ausscheidungen“, hielt der Pflege-Azubi Alexander Jorde vor der Bundestagswahl in der ARD-Wahlarena Angela Merkel entgegen. „Das sind Menschen, die haben dieses Land aufgebaut nach dem Weltkrieg. Die Pflege ist so überlastet.“ Merkel versprach daraufhin vage: „Es wird mehr Standard da reinkommen.“ In wenigen Tagen nun wird die neue Regierung vereidigt – und in der Altenpflege hoffen viele auf die Linderung ihrer Not. Was sind die Probleme? Welche Perspektiven bietet die Koalition?

Der CDU-Mann Jens Spahn versicherte in einem seiner ersten Interviews als designierter Gesundheitsminister, er wolle dafür sorgen, dass der Pflegeberuf attraktiver werde. Pflege bewege „jeden in Deutschland“. Mit Spannung wird nun erwartet, was der 37-Jährige beim Deutschen Pflegetag am kommenden Donnerstag ankündigen wird.

Nadine Nachtigall ist Pflegefachkraft in einem Berliner Heim. „Den derzeitigen Mangel an Pflegekräften merken wir jeden Tag“, sagt sie. Täglich hilft sie den alten Bewohnern beim Anziehen, der Körperpflege, beim Essen und Einnehmen von Arnzei. Sie liebe den Beruf. Doch als sie vor fünf Jahren angefangen habe, sei der Fachkräftemangel weniger spürbar gewesen. „Da die Zeit oft knapp ist und in den Einrichtungen Personal fehlt, bleibt viel liegen“, erläutert Nachtigall. Sie hätte gern öfters eine halbe Stunde mehr für Gespräche mit den Bewohnern oder Angehörigen. „Das machen wir dann oft zwischen Tür und Angel.“ In ihrem Wohnbereich betreuen in der Frühschicht eine Fachkraft und drei Helfer 31 Bewohner – nachts sind es eine Fachkraft und ein Helfer für das ganze Haus mit 94 Bewohnern. „Wir sind dabei im Vergleich zu anderen Einrichtungen noch gut aufgestellt.“

Zwischen Pflege und Politik liegt eine Kluft. Der CDU-Abgeordnete Erwin Rüddel forderte die Pflegenden im Februar auf Twitter auf, „gut über die Pflege zu reden“ – und erntete Empörung. „Ich finde Verstorbene in den Zimmern, immer wieder. Keiner bekommt es mit. Es ist zu viel Arbeit. Das ist grässlich“, schrieb eine Frau. Bessere Bezahlung durch flächendeckende Tarifverträge, eine Ausbildungsoffensive, Anreize für mehr Vollzeit – das versprechen Union und SPD. Und 8000 neue Fachkraftstellen per Sofortprogramm. „Die Zahl 8000 hat mich erschreckt“, sagt Nachtigall. „Das ist auf alle Einrichtungen gerechnet nicht viel.“ Genau genommen etwa eine Zwei-Drittel-Stelle für jede der rund 13 000 Einrichtungen. Das rechnet Heinz Rothgang aus Bremen vor, einer der renommiertesten Pflegeforscher des Landes. „Doch das Hauptproblem ist, dass die Heimbetreiber offene Stellen ohnehin kaum besetzen können“, sagt er. Der Stellenmarkt sei leer gefegt.

Die Experten sind sich einig: Viele Probleme in der Pflege ließen sich mit mehr Geld lösen. „Was jetzt an höheren Löhnen und besserer Personalausstattung geplant ist, droht aber zu 100 Prozent von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen bezahlt werden zu müssen“, sagt Rothgang. Heute schwankt der Eigenanteil für Heimbewohner laut einer neuen Barmer-Studie im Schnitt zwischen 1107 Euro pro Monat in Sachsen-Anhalt und 2252 Euro in Nordrhein-Westfalen. Wenn die Betroffenen oder ihre Angehörigen nicht zahlen können, springt die Sozialhilfe der klammen Kommunen ein. „Wir müssen aufpassen, dass man die Menschen, die sich etwas für ihr Alter zurückgelegt haben, nicht bestraft“, mahnt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Schon heute kann rund ein Drittel der Betroffenen die Eigenanteile nicht aufbringen. Nötig sei eine deutlich großzügigere öffentliche Finanzierung der Pflege.

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