Die nachts durch die Hölle gehen

Klingenmünster. Sie presst ein helles, kurzes Lachen hervor. Aber sie lächelt nicht. "Bei mir ist das schon seit Jahren so. Inzwischen . . ." Die 50-Jährige hält kurz inne, um dann leise fortzufahren: ". . . inzwischen hasse ich mein Bett." Vera (Name v. d. Red

Klingenmünster. Sie presst ein helles, kurzes Lachen hervor. Aber sie lächelt nicht. "Bei mir ist das schon seit Jahren so. Inzwischen . . ." Die 50-Jährige hält kurz inne, um dann leise fortzufahren: ". . . inzwischen hasse ich mein Bett." Vera (Name v. d. Red. geändert) leidet wie fast jeder zehnte Deutsche unter chronischen Schlafstörungen. Es dauert Stunden bis sie einschlafen kann. Und ein, zwei Stunden später ist sie wieder wach. Hellwach.

Stellen Sie sich vor, Sie spazieren den Strand einer tropischen Insel entlang. Die Sonne wärmt ihre Haut. Spüren Sie es? Spüren Sie den feinkörnigen Sand unter Ihren nackten Füßen? Hören Sie die seltsamen Rufe der exotischen Vögel?

Nicht schlafen zu können - das Problem kennt eigentlich jeder. Meist ist der Auslöser eine Prüfung am nächsten Tag, finanzielle Sorgen, Probleme im Beruf, mit dem Partner oder der Familie. Je länger man wach liegt und grübelt, desto größer wird der Druck: Ich muss jetzt schlafen, damit ich morgen fit bin. Man schaut auf die Uhr und rechnet die Stunden aus, die man bereits wach liegt - und die bleiben, bis der Wecker klingelt. Man wälzt sich von einer Seite auf die andere. Aber der Schlaf kommt nicht. Den nächsten Tag durchlebt man wie gerädert. Bei Vera haben sich die leidvollen Erfahrungen vieler durchwachter Nächte verselbstständigt: Wenn sie ins Bett geht, hält sie allein schon die Angst vor der Schlaflosigkeit wach. Ein typisches Phänomen bei Patienten mit Insomnie (Schlafstörungen). "Es ist die totale Verzweiflung", sagt Vera.

Rechts erhebt sich ein Berg, bewachsen mit dichtem Urwald. Sehen Sie ihn? Da vorn führt ein Pfad in den Wald. Sie tauchen ein in das dunkle, satte Grün tropischer Pflanzen. Riechen Sie die den Wald, die Blumen?

Ralf Binders Stimme ist gedämpft, der Rhythmus seiner Worte wie langsames Ein- und Ausatmen. Um ihn herum sitzen 22 Teilnehmer eines Schlafseminars am Pfalzklinikum in Klingenmünster und folgen ihm mit geschlossenen Augen auf dem Spaziergang über die Tropeninsel. "Lassen Sie ihre Sorgen und Probleme außen vor und konzentrieren Sie sich auf ein schönes Erlebnis und die Sinneseindrücke, die sie dabei wahrnehmen", so hat Psychologe Binder ihnen die Fantasiereise als Einschlafhilfe erklärt. Jetzt sitzen sie zurückgelehnt da und strengen sich an, Entspannung zu finden. 22 Menschen, die "nachts durch die Hölle gehen", wie Vera. Oder Gerald, der im Schwarzwald eine Firma mit mehr als 4000 Mitarbeitern leitete und nicht mehr schlafen kann, seit der berufliche Druck und die Kündigungen, die er aussprechen musste, ihn nicht mehr losließen. Vivian aus Köln, die sich mit ihrem Freund zerstritten hat, im vierten Monat schwanger ist und "furchtbare Angst hat, dass das Baby den letzen Rest Schlaf rauben wird", den sie manchmal noch findet.

Der Pfad führt bergan, ein Bach plätschert nicht weit von Ihnen. Hören Sie es? Der Wald wird lichter, gleich haben Sie den Berggipfel erreicht. Sehen Sie, wie es heller wird?

"Der Leidensdruck bei Insomnie-Patienten ist enorm", sagt Hans-Günter Weeß, der gemeinsam mit Binder das zweitägige Seminar leitet. "Schlafentzug ist ja auch eine Folter-Methode", stellt der Psychologe nüchtern fest. Mutmaßliche Terroristen im US-Gefangenenlager Guantanamo sollen ihr ausgesetzt gewesen sein, die RAF-Terroristen Baader und Meinhof wurden in Stammheim tagelang bei grellem Licht eingesperrt - Lichtfolter nannte man das. "Der permanente Schlafmangel führt zu Angstzuständen, Reizbarkeit, Antriebslosigkeit bis hin zu schweren Depressionen", erklärt Weeß, der auch im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und -medizin ist.

An seinen Lippen hängen meist flehentliche Blicke aus versteinerten Gesichtern. Ziel des Seminars ist es, die Betroffenen "zum Fachmann des eigenen Schlafes zu machen", sagt Weeß. Sie erfahren, dass die individuell benötigte Schlafdauer genetisch festgelegt ist, ein gesunder Deutscher durchschnittlich 6:59 Stunden schläft - und eine knappe Viertelstunde zum Einschlafen braucht. Ein Wert, den viele Seminarteilnehmer mit traurigem Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen. Die Tiefschlafphasen (wichtig für die körperliche Regeneration) arbeitet der Mensch im ersten Drittel seines Schlafes ab, danach nehmen die REM-Phasen (der Traumschlaf) zu. Ausgeschlafen sei man nach dem ersten Drittel der Nacht deshalb aber nicht. "Die REM-Phasen sind wichtig für unser emotionales Empfinden, für unsere Ausgeglichenheit", sagt Weeß. Zudem werde im Traumschlaf Erlerntes vertieft und das Gedächtnis geschult. Wenn mit zunehmenden Alter die REM-Phasen weniger werden, sei dies auch mit ein Grund dafür, dass das Gedächtnis nachlasse. Und noch eines lernen die Teilnehmer: Schlaf kann man nicht nachholen. Wer nach durchwachter Nacht morgens länger im Bett bleibe, minimiere nur die Chancen für den Schlaf in der nächsten Nacht.

Sie stehen auf dem Berggipfel und lassen Ihren Blick über die Insel streifen. Paradiesische Strände säumen das Eiland. Sehen Sie sie, da in der Ferne?

"Sie haben keine Schlafstörung, sondern ein Abschaltproblem", erklärt Weeß der überraschten Runde. "Sie sollten sich entpflichten und sich nicht mit dem Gedanken unter Druck setzen, schlafen zu müssen. Na und? Dann schlafen sie eben kaum. Sie werden's überleben. Der Körper holt sich den allernotwendigsten Schlaf von selbst." Sich zu "entpflichten" will allerdings vorbereitet sein: Wecker unters Bett, damit man nicht dauernd hinguckt, rät Weeß. Konstante Zubettgeh- und Aufstehzeiten. Nicht vorm Fernseher einschlafen. Keine aufreibende Bettlektüre. Wohlfühl-Atmosphäre im Schlafzimmer kreieren. Über Probleme nur außerhalb des Schlafzimmers grübeln. Weeß: "Man kann den Schlaf nicht herbeizitieren. Man kann nur die Grundlage dafür schaffen, dass er kommt." Und: Schlafmittel überdeckten nur das Problem und verlören zudem langfristig ihre Wirkung. Am Abend entlassen Weeß und sein Kollege Binder die Seminarteilnehmer mit den Worten in ihre Hotelzimmer: "Wir wünschen ihnen keinen guten Schlaf, sondern eine angenehme, entspannte Atmosphäre!"

Am Horizont fahren Schiffe. Sehen Sie sie? Sie blinken in der Sonne. Sie fahren, weiter und weiter . . . , weiter und weiter . . .

Am Morgen steht die Frage nach der vergangenen Nacht unausgesprochen im Raum. Eine Frau aus Hannover winkt ab: "Es war katastrophal. Ich habe zwar erkannt, dass ich an mir etwas ändern muss, aber mir fehlt die Gelassenheit." Auch Vera schüttelt mit dem Kopf. Bei Gerald aus dem Schwarzwald ist es besser gelaufen. "Ich bin erst spät, so gegen Mitternacht ins Bett gegangen, hab' den Wecker weggestellt und . . ." Die Pause in seinem Satz begleitet ein Lächeln: ". . . und bis fünf Uhr morgens durchgeschlafen." "Schlafentzug

ist ja auch eine Folter-Methode."

Hans-Günter Weeß, Schlafforscher

Auf einen Blick

Die zweitägigen Seminare im Pfalzklinikum in Klingenmünster für 200 Euro (150 Euro übernimmt die Krankenkasse) finden alle zwei Monate statt. jos

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