Die Heiner-Geißler-Show

Stuttgart. Das ist also der Mann, der in Deutschland Demokratie-Geschichte schreiben will, dachte sich die Nation, als Heiner Geißler mit seiner Schlichtung Ende Oktober erstmals auf Sendung war. Ein Männlein nur, gebückt, mit weißem Stoppelhaar und beeindruckenden Furchen im Gesicht. Ein Senior, den man kaum bemerkt, wenn er zur Tür reinkommt

 Schlichter Heiner Geißler stand regelmäßig im Mittelpunkt, wenn im Stuttgarter Verhandlungssaal diskutiert wurde. Die Schlichtungsrunden wurden erstmals überhaupt im Fernsehen live übertragen. Foto: dpa

Schlichter Heiner Geißler stand regelmäßig im Mittelpunkt, wenn im Stuttgarter Verhandlungssaal diskutiert wurde. Die Schlichtungsrunden wurden erstmals überhaupt im Fernsehen live übertragen. Foto: dpa

Stuttgart. Das ist also der Mann, der in Deutschland Demokratie-Geschichte schreiben will, dachte sich die Nation, als Heiner Geißler mit seiner Schlichtung Ende Oktober erstmals auf Sendung war. Ein Männlein nur, gebückt, mit weißem Stoppelhaar und beeindruckenden Furchen im Gesicht. Ein Senior, den man kaum bemerkt, wenn er zur Tür reinkommt. Doch seine Präsenz bildet sich anders ab als durch Körperlichkeit.

Geißler überzeugt, sobald er redet, auch wenn er, eine Marotte, seine Sätze mit "nicht wahr?" schließt. Geißler sollte das scheinbar Unmögliche versuchen, die Kontrahenten im erbittert geführten Streit um das Bahnprojekt "Stuttgart 21" an einen Tisch zu holen. Sie zu versöhnen, das war schon immer zu viel verlangt. Aber wenige Wochen nach dem brutalen Polizei-Einsatz im Stuttgarter Schlossgarten war es schon ein Fortschritt, sie dazu zu bringen, miteinander zu reden.

Eine "Innovation" hatte der CDU-Mann angekündigt. "Aufklärung in bester Kant'scher Tradition" durch eine "Sach- und Faktenschlichtung", bei der keiner mit Phrasen oder Polemik durchkommen sollte. Nicht weniger als die um sich greifende Politikverdrossenheit wollte er mit seinen Gesprächsrunden schreddern, die Sprachlosigkeit zwischen Politik und Zivilgesellschaft überwinden.

Wenn Heiner Geißler heute, nach sechs Wochen mühevoller Schlichtung, durch Stuttgart geht, schlägt ihm Respekt von allen Seiten entgegen. Die Parkschützer grüßen ihn freundlich, obwohl sie sich dem Runden Tisch verweigert haben, um ihren Protest nicht weichspülen zu lassen. Die Herren von der Bahn AG fühlen sich von ihm gut behandelt. Selbst in der CDU hört man Wohlwollendes über Geißler, was ja nicht immer so war. Jeder konnte sich ein Bild davon machen, was dieser 80-Jährige geleistet hat. Statt auf seine alten Tage durch die heimischen Reben spazieren zu gehen, deren Lage ausgerechnet den Namen "Gleisweiler Hölle" hat, statt auf die geliebten Berge zu kraxeln, saß er manchmal acht, neun Stunden oder länger im künstlich beleuchteten Sitzungsaal im Rathaus und gab den Bürgeranwalt.

"Das versteht doch kein Mensch!" Wie oft hat er allein diesen Satz gesagt im Bemühen, Klarheit in den Wust an Informationen und Glaubenslagen zu bekommen? Diese Form der Schlichtung werde nicht nur Geschichte schreiben, sagte er bereits vor Beginn. Sie werde auch stilbildend sein für alle künftigen Großprojekte. Geißler ist ein Unikat. Und er weiß um seine Wirkung. Eitelkeit hat bei ihm kein spezielles Gesicht. Mal sind es die Augenbrauen, die sich langsam heben. Mal ist es ein Nebensatz, der ihn als Repräsentanten des Bildungsbürgertums kennzeichnet, der aber wirkt wie ein kumpelhafter Ellenbogenstoß. Geißler ist der Günther Jauch der Politik, weil auch er immer so tut, als gehöre er eigentlich nicht dazu, als sei er nur zufällig auf diesen Sitz geraten, mitten unter die ganz normalen Bürger. Ein Normalo, halt nur mit ein bisschen Grips, der sich an das Motto der Feuerzangenbowle hält: Jetzt stellen wir uns mal ganz dumm. Deshalb verwundert das Bedauern vieler Menschen in Deutschland kaum, dass so ein integrer Politiker nicht mehr aktiv ist. Innenminister Thomas de Maizière ärgerte sich offen über Geißlers Halbsatz, in Berlin gebe es weit jüngere Politiker, denen "der Kalk aus der Hose rieselt": Es könne nicht sein, dass die Polit-Pensionäre die "Heiligen" und die Aktiven die "Idioten" seien.

Bei der FDP, die ihn als Schlichter gern verhindert hätte, hegen sie derart negative Gefühle, dass es schon an tiefe Abneigung grenzt. Seine Sympathie mit den Projektgegnern "sei mit den Händen zu greifen". Geißler gehe es nur um Profilierung, damit er weiter in die Talkshows komme.

Auch bei der CDU finden sich Spötter. Doch sie sind dieser Nervensäge, diesem Unkalkulierbaren auch dankbar, das Himmelfahrtskommando übernommen zu haben. Seit Heiner Geißler schlichtet, steigen die Umfragewerte für die Christdemokraten wieder. In den Schlichtungen nimmt sich Heiner Geißler aus purer Lust an intellektuellen Spielchen heraus, was er den anderen keinesfalls durchgehen lässt. Er streut lateinische Merksätze ein, sagt "nondum omnium dierum solem occidisse", obwohl er natürlich auch auf Deutsch sagen könnte, dass noch nicht aller Tage Abend ist. Mal zitiert er Franz Josef Strauß, mal Adenauer. Daraus spricht nicht nur das prallvolle Langzeitgedächtnis eines Alten. Es ist immer auch der selbstverliebte Verweis auf die Autorität einer langen Politik-Vita. Das Signal dieser Heiner-Geißler-Show lautet: Ich bin Euch noch allemal überlegen, also benehmt Euch gefälligst! Sie haben sich benommen. So sehr, dass selbst der großmäulige Grünen-Star Boris Palmer fast jede Ausführung devot mit "Danke, Herr Doktor Geißler" begann. Dem Schlichter war es nicht unangenehm. "Es ist besser,

Sie gehen in die Kirche als auf die Straße."

"Zahnlücke ist mir klar, aber was ist eine Taktlücke?" "Begrenzt verständlich, deshalb nehmen wir lieber die nächste Folie." "Das ist völlig indiskutabel." "Betreiben Sie keine Orgien mit Folien." "Alles was zum ersten Mal passiert, ist vorher für nur theoretisch gehalten worden." "Nominalisierung,

auch so ein Verschleierungsbegriff." "Ich seh schon,

wir leisten hier unheimlich Vorarbeit." "Die Bürger erwarten, dass wir etwas Ordentliches

zustande bringen."

(Alle Zitate von Heiner Geißler)

Hintergrund

Noch vor dem Schlichterspruch zum Bahnprojekt "Stuttgart 21" hat die SPD in Baden-Württemberg ihre Forderung nach einer Volksabstimmung bekräftigt. "Ich erwarte, dass die Bürger das letzte Wort haben", sagte gestern SPD-Landeschef Nils Schmid. Diesen Wunsch müsse auch Heiner Geißler in seinem Schlichterspruch berücksichtigen. dapd

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