Die Heimat der Heimatlosen

Lebach. Ein Kind sitzt vor Haus 16 auf einem Einkaufswagen. Eine ältere Frau mit Kopftuch hängt Wäsche auf. Ein kleiner Junge spielt an einer Telefonsäule. Es ist ruhig an diesem sonnigen Morgen in der Landesaufnahmestelle Lebach. Sehr ruhig. Idyllisch fast. 850 Menschen ohne Heimat leben derzeit hier am Rande der Stadt und doch mittendrin in Lebach zwischen Gymnasien und Bundeswehr

Lebach. Ein Kind sitzt vor Haus 16 auf einem Einkaufswagen. Eine ältere Frau mit Kopftuch hängt Wäsche auf. Ein kleiner Junge spielt an einer Telefonsäule. Es ist ruhig an diesem sonnigen Morgen in der Landesaufnahmestelle Lebach. Sehr ruhig. Idyllisch fast. 850 Menschen ohne Heimat leben derzeit hier am Rande der Stadt und doch mittendrin in Lebach zwischen Gymnasien und Bundeswehr. In vier Straßen sind Flüchtlinge aus über 30 Nationen untergebracht, sie kommen aus Syrien und China, Indien oder Pakistan. Die Straßen heißen wie die Gebiete, aus denen die ersten Hilfesuchenden kamen: Schlesierallee, Pommernstraße, Oderring, Ostpreußenstraße. Seit 50 Jahren ist Lebach Zufluchtsort für Vertriebene, für vom Schicksal hart getroffene Menschen, die mit der Hoffnung auf ein neues Leben nach Deutschland kamen und im Saarland landeten. Wie viele Menschen hier Obdach fanden in all den Jahren, darüber liegen nur Schätzungen vor. Eine realistische Zahl lautet 150 000. 150 000 Menschen, 150 000 Schicksale. 150 000 Mal Ungewissheit und Leid und Probleme. "Alle, die Hilfe brauchen, sollen Hilfe bekommen", sagt Werner Kallenborn. Der 58-Jährige ist Leiter der Caritas in der Landesaufnahmestelle. Mit über 50 Mitarbeitern ist die katholische Hilfsorganisation der größte soziale Träger vor Ort, daneben kümmern sich das Rote Kreuz und das Diakonische Werk um die Nöte der Bewohner.

Von seinem Büro in der Pommernstraße hat Kallenborn direkten Blick auf das Leben in der vielfach immer noch "Lager" genannten einzigen Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge im Saarland. Mit 850 Bewohnern ist sie Lebachs achtgrößter Stadtteil, größer als Eidenborn oder Niedersaubach. Viel gehört hat man von dem für die meisten unbekannten Ort zuletzt nicht. Seit Jahren taucht er nur noch mit Festen oder Sprachkursen in der Zeitung auf. Auch die Polizei kommt "mit den Verhältnissen gut klar", sagt Polizeichef Harald Guldner. Natürlich gebe es hin und wieder Probleme - "bei so vielen Nationalitäten auf engem Raum". Größere Vorkommnisse habe es aber seit Jahren keine gegeben.

Die Ruhe ist sicher ein Zeichen dafür, dass Kallenborn und Kollegen gute Arbeit leisten. In der Kindertagesstätte und dem Kinderhort, wo Deutsche und Ausländer gemeinsam aufwachsen, und beim so genannten Migrationsdienst, der mit Deutschkursen, Ferienfreizeiten, Sportangeboten oder einem Internetcafé vor allem für die Jugend da ist. Als "Vermittler und Anwalt der Bewohner" sieht Kallenborn die Caritas. Verbindendes Ziel aller Aktivitäten: Die Flüchtlinge sollen sich zurechtfinden in der Fremde. Und das Zusammenleben soll funktionieren, der "sozialen Friede" gewahrt bleiben. "Die Situation ist momentan unproblematisch", sagt Kallenborn. Die Wohnungen sind nur zu zwei Dritteln belegt, ohnehin kommen seit der Verschärfung des Asylrechts Anfang der 90er Jahre deutlich weniger Flüchtlinge. 540 waren es 2008, in diesem Jahr bislang 240. Früher kamen Zehntausend pro Jahr, und einmal kamen innerhalb von Tagen 1500 rumänische Roma. Das war im Sommer 1990 und die Zeit, als der soziale Friede in Lebach in Gefahr geriet. Das Freibad wurde mit Stacheldraht gesichert, Fußstreifen patrouillierten durch die City, von den Äckern wurden die Kartoffeln geklaut. Journalisten aus der gesamten Republik schrieben über die "Zigeuner-Hysterie von Lebach", am Ende sendete RTL live aus der Fußgängerzone. 20 Jahre nach den Soldatenmorden machte Lebach wieder bundesweit Schlagzeilen. Die Stadt sei damals überstrapaziert worden, sagt Kallenborn. Die Bevölkerung habe sich "zu Recht gewehrt". Die Rolle der Caritas sei es gewesen, "alles dafür zu tun, damit die Sache nicht eskaliert". Trotz "katastrophaler Zustände" blieb es friedlich, anders als später in Hoyerswerda oder Rostock brannte kein Asylbewerberheim. Und nach drei Wochen - nachdem es für die Flüchtlinge statt Sozialhilfe Essenspakete und ein Taschengeld gab - war der Spuk schlagartig vorbei.

Ob damals viel zu Bruch gegangen ist, in dem ohnehin fragilen Verhältnis Lebach/Lager? Kallenborn antwortet mit einem klaren "Nein". Die Stadt habe schnell zurückgefunden zu einem weitgehend entspannten Miteinander. Dass dies bis heute besteht, sei "eine riesige Leistung der Bevölkerung". Fast jeder Lebacher habe Kontakt zu Ausländern, in der Schule, in Vereinen, im Alltag. Und vielfach seien die einstmals Fremden tatsächlich heimisch geworden an der Theel. Das Telefonbuch der Stadt ist voll mit exotisch klingenden Namen wie Fajferek oder Skorupa, die hier längst nicht mehr exotisch sind. Und nicht nur die Fußballer verdanken viel von ihrem Glanz Menschen, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Stadions gewohnt haben, in den weiß getünchten Häuserblöcken, die heute vollhängen mit Satellitenschüsseln - für viele der letzte Kontakt in die zurückgelassene Heimat.

In gewisser Weise hat sich in den vergangenen 50 Jahren trotz vielfältiger Schwierigkeiten also erfüllt, was auf einer kleinen Holztafel in einem Flur der Caritas geschrieben steht: "Freude, dem der kommt. Friede, dem der verweilt. Segen, dem der weiterzieht." "Alle, die Hilfe brauchen, sollen Hilfe bekommen"

Werner Kallenborn, Leiter der Caritas

in der Landesaufnahmestelle

Hintergrund

Mit einem Gottesdienst (15.30 Uhr) und einer anschließenden Jubiläumsfeier in der Stadthalle erinnert die Caritas heute an 50 Jahre soziale Arbeit mit Aussiedlern und Flüchtlingen in der Landesaufnahmestelle Lebach. Zum Jubiläum überreicht die Staatssekretärin im Ministerium für Bildung, Familie, Frauen und Kultur, Gaby Schäfer, um 16.30 Uhr einen symbolischen Scheck über 545 820 Euro an die die Caritas-Kindertageseinrichtung St. Nikolaus. Mit dem Betrag soll der Erweiterungsbau durch das Saarland und die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Investitionsprogramms "Kinderbetreuungsfinanzierung 2008 bis 2013 gefördert werden.

In der Landesaufnahmestelle sind derzeit 850 Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge aus über 30 Nationen untergebracht, Platz ist für insgesamt 1200 Menschen. Die Hauptherkunftsländer sind aktuell Syrien (115 Flüchtlinge), China (115), Serbien (114), Irak (106), Türkei (64), Indien (50), Iran (49), Pakistan (42) und Algerien (32). tho

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