Die große Erlösung von Dresden

Es ist eine Katharsis. Aus der Tragödie erwächst seelische Läuterung und neue Kraft. So verarbeitet die SPD auf ihrem Parteitag in Dresden ihr Wahldesaster vom 27. September. Es gibt kein Scherbengericht - weder über Franz Müntefering, noch über Frank-Walter Steinmeier. Die Basis will keine persönliche Abrechnung mit den eigenen Spitzenleuten

Es ist eine Katharsis. Aus der Tragödie erwächst seelische Läuterung und neue Kraft. So verarbeitet die SPD auf ihrem Parteitag in Dresden ihr Wahldesaster vom 27. September. Es gibt kein Scherbengericht - weder über Franz Müntefering, noch über Frank-Walter Steinmeier. Die Basis will keine persönliche Abrechnung mit den eigenen Spitzenleuten. Sie ist zufrieden, dass sich Kurs und Führungsstil ändern. Und zwar grundlegend. Am Abend ist die Stimmung sogar fröhlich. Mit einem chinesischen Sprichwort beendet der neue Vorsitzende Sigmar Gabriel seine eineinhalb Stunden dauernde Rede: "Wer nicht lächeln kann, der soll keinen Laden aufmachen." Da jubelt der Saal. Die Delegierten sind glücklich darüber, nun wieder einen zu haben, der ihnen den Glauben an sich selbst zurückgibt. Und sogar die Kraft zur Attacke. "Macht euch auf was gefasst", ruft Gabriel der schwarz-gelben Koalition zu. "Die SPD kommt wieder, wie wir immer wieder gekommen sind." 94,2 Prozent der Stimmen bekommt er. Der König ist tot, es lebe der König. Die SPD kennt das Stück. Sie spielt es zum siebten Mal in den letzten fünf Jahren. Vor Dresden hat es viele Ängste gegeben. Ex-Staatsminister Günter Gloser sorgt sich sogar, die Partei könne so zerstört aus dem Treffen hervorgehen wie der Planet Erde aus Roland Emmerichs neuestem Katastrophenfilm "2012". Dass dergleichen nicht passiert, liegt an der ausgeklügelten Strategie. Bewusst lässt man der Basis Zeit zum Dampfablassen. Keine Begrenzung der Rednerliste: Fünf Stunden und 66 Wortmeldungen. Den Anfang macht Franz Müntefering. Er verabschiedet sich mit einer Rede, die keinen persönlichen Angriff erlaubt. Sie enthält Selbstkritik nur in Spurenelementen, aber sie provoziert auf der anderen Seite auch niemanden durch Rechthaberei. "Es war mir eine Ehre, und es war mir ein Vergnügen." So verabschiedet er sich, ungeknickt. Ein Abgang wie von der Titanic. Die 525 Delegierten stehen auf und klatschen lange. Nicht begeistert, eher wehmütig. Die Anhänger der Politik von Ex-Kanzler Gerhard Schröder sind hoffnungslos in der Minderheit, jedenfalls am Rednerpult. Der Altkanzler ist erst gar nicht erschienen. Da ist keiner mehr, der die zurückliegenden elf Jahre sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung zu hundert Prozent verteidigt. Die Kritik richtet sich gegen den autoritären Führungsstil der vergangenen Jahre. Und gegen den Kurs. Ob Bahn-Privatisierung, Verzicht auf die Vermögenssteuer oder Arbeitsmarktreformen. Die SPD habe ihre Kernkompetenz, die soziale Gerechtigkeit, verloren, sagt Schleswig-Holsteins Landeschef Ralf Stegner. Konkret wird das bei den Themen Hartz IV und der Rente mit 67. Die Forderung nach Korrekturen durchzieht fast alle Redebeiträge und auch die meisten Beschlussanträge. Freilich, "eine Totalrevision will niemand", wie Stegner sagt. Entsprechende Anträge, über die an diesem Wochenende abgestimmt wird, gelten als aussichtslos. Gabriel redet nach dieser Debatte und trifft die Stimmung exakt. Er erklärt die Fehler damit, dass man einer angeblichen Mitte hinterhergelaufen sei, deren Deutungshoheit bei "BWL-Juppies" und Wirtschaftsliberalen gelegen habe. Als die Partei diesen Kurs mit dem Wahlprogramm 2009 korrigiert habe, hätten die Wähler das nicht mehr geglaubt. Eine neue innerparteiliche Diskussionskultur verspricht Gabriel, bis hin zu Mitgliederentscheiden. Diese Passage wird am meisten beklatscht. Für einen ist der Verlauf des Parteitages eine besondere Genugtuung: Ottmar Schreiner, Vorsitzender des Arbeitnehmerflügels, der vor sechs Jahren von Schröder wegen seiner Kritik an den Arbeitsmarktreformen öffentlich zusammengefaltet worden war. Er fordert auf dem Parteitag, nun auch das Tabu der Wiedereinführung der Vermögenssteuer zu schleifen und die Arbeitsmarktreformen "grundlegend" zu revidieren, "nicht nur im Detail". Großer Beifall.

Auf einen BlickDer SPD-Parteitag wählte eine neue Parteispitze. Neben dem designierten Parteichef Sigmar Gabriel gehören ihr an: Klaus Wowereit (56) ist der Frontmann der Berliner SPD. Das öffentliche Bekenntnis zu seiner Homosexualität machte ihn 2001 bekannt. Im gleichen Jahr wurde der Ur-Berliner Regierender Bürgermeister der Hauptstadt. Seit Anfang 2002 steht er an der Spitze einer rot-roten Koalition. Der Jurist will Vize-Parteichef werden. ddp Olaf Scholz (51) gilt als cleverer Strippenzieher und ausgefuchster Politprofi. Nach dem Ende der Regierungszeit der SPD macht der frühere Arbeitsminister nun Karriere in der Partei. Scholz hatte nach dem Rücktritt von Franz Müntefering das Amt des Arbeitsministers übernommen. Erst kürzlich wieder zum Hamburger Landeschef gewählt, will er nun auch Vize-Parteivorsitzender der Bundes-SPD werden. Der Osnabrücker ist seit 1975 in der SPD.ddpHannelore Kraft (48) ist die Landesvorsitzende der nordrhein-westfälischen SPD. Nach dem Debakel bei der Bundestagswahl will sie auf dem Bundesparteitag zur stellvertretenden Parteichefin aufsteigen. Krafts große Bewährungsprobe folgt schon am 9. Mai 2010. Dann muss sie die NRW-SPD in die Landtagswahl führen. ddp Manuela Schwesig (35) ist Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist ostdeutscher Herkunft und Hoffnungsträgerin für den Neuanfang der Bundes-SPD. Nach der überraschenden Berufung der bundesweit kaum bekannten Landespolitikerin Ende Juli ins Wahlkampfteam des Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier will sie nun Vizechefin der Bundespartei werden.ddp Andrea Nahles (39) wollte schon einmal SPD-Generalsekretärin werden. Vor vier Jahren scheiterte die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD noch am Widerstand von Franz Müntefering, der wegen dieses Konflikts als Parteichef den Hut nahm. Im zweiten Anlauf dürfte es jetzt klappen. Formal fällt sie in der SPD-Hierarchie damit zwar zurück. Im Tandem mit Sigmar Gabriel will Nahles den Neuaufbau der SPD jedoch in Angriff nehmen.dpa

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