Die Frau mit dem Zauberstein

Saarbrücken · Ob Kinderkrankenhaus, Altenheim oder Frauenhaus – Rodica Wollscheid erzählt ihre Geschichten. Dafür hat sie sogar eine Ausbildung gemacht. Oft wird sie belächelt, doch das schmälert ihren Enthusiasmus nicht.

 Gebannte Zuhörer: Rodica Wollscheid erzählt kranken Kindern in der Klinik am Winterberg Geschichten. Foto: Maurer

Gebannte Zuhörer: Rodica Wollscheid erzählt kranken Kindern in der Klinik am Winterberg Geschichten. Foto: Maurer

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Wie schafft sie das? Neun von zehn Kindern sitzen still und hören zu. Nur ein Junge lässt das Zappeln nicht und wird von seiner Mutter nach draußen begleitet. Rodica Wollscheid hat sich im Spielzimmer der Kinderklinik auf dem Saarbrücker Winterberg niedergelassen und erzählt. Normalerweise tut sie das bei flackerndem Kerzenschein, aber eine Märchenerzählerin im 21. Jahrhundert muss sich den Sicherheitsbestimmungen des 21. Jahrhunderts stellen: kein offenes Feuer in geschlossenen Räumen! Schwester Birgit treibt zwei LED-Teelichter auf. Die Kinder stört das Kunstlicht aber ohnehin nicht.

Sie sitzen in drei Reihen auf kleinen Holzstühlen, neben manchen steht der Infusionsständer. Ungewöhnliche Kulisse für den Auftritt der Märchenerzählerin, aber wir sind eben in einer Klinik. Rodica Wollscheid hat vor Beginn der Märchenstunde das Zimmer zur Kulisse gemacht: ein Mond, eine Taube, Tüll, Holz, kleinere und größere Figuren holt sie aus dem großen braunen Koffer. Jetzt wissen wir, warum der so schwer war. Sogar Tannengrün hat sie dabei; es ist schließlich Advent. Rodica Wollscheid liest nicht vor, sie erzählt an diesem frühen Nachmittag auch keine langen Märchen. Die Kinder dürfen mitmachen, Fragen stellen, hier und da eine Frage beantworten. Das muss so sein, denn einige der Zuhörer sind noch recht klein, können nicht allzu lang aufmerksam lauschen. Keine leichte Aufgabe für die Märchenerzählerin.

Sie sitzt vor ihren Zuhörern in einem langen blauen Rock mit Bordüre, darunter eine rosa Pumphose, Schuhe mit Wildlederfransen, über den Schultern ein Umhang. Die Verwandlung von der berufstätigen Mutter zweier Kinder zur Märchenerzählerin musste an diesem Tag besonders schnell gehen. Vielleicht drängen sich deshalb lose braune Haarsträhnen in ihr schmales Gesicht. Aber auch zerzauste Märchenerzählerinnen können gut aussehen.

Mit einem großen Schlüssel schließt sie den Kindern das Tor zum Märchenland auf. Dort treffen sie den König mit den drei Söhnen, von denen Dummling der Schlaueste ist und folglich am Ende die schöne Prinzessin zur Frau bekommt. Rodica Wollscheid hat eine Schatztruhe dabei und einen Zauberstein, der Geschichten verraten kann. "Geschichten sind wie Schmetterlinge. Sie flattern immer um einen herum", sagt sie. Anton, Andrei, Mira, Mike und die anderen Kinder brauchen sie nur einzufangen. Das gefällt ihnen. Nach dem Applaus für die Märchenerzählerin gehen sie zurück in die Krankenbetten.

Einen Tag später hat Rodica Wollscheid einen Auftritt in einem Saarbrücker Altenheim. Dafür wählt sie dann keine kleinen Geschichten aus, wie die vom Dummling, sondern die guten, alten Hausmärchen. An die können sich nämlich auch ältere Menschen erinnern, die ansonsten schon sehr vergesslich sind.

Die 36-jährige Rodica Wollscheid ist in Rumänien geboren. Mit 13 Jahren kam sie mit ihren Eltern erstmals nach Deutschland, lebte für ein Jahr in Berlin. Nach dem Abitur in Rumänien zog sie nach Saarbrücken zum Studieren - weil der ältere Bruder auch hier war. Der ist Musiker und lebt inzwischen in München. Der Philosophie galt Rodica Wollscheids Interesse, aber dann hat sie, wie sie sagt, doch lieber "Party gemacht".

Das liegt lange zurück, und man mag es kaum glauben, wenn man sieht, wie ernsthaft sie ihren zahlreichen Tätigkeiten nachgeht: als Märchenerzählerin, im Deutschunterricht für Roma-Kinder an der Saarbrücker Weyersbergschule, als Mitarbeiterin der Agentur Fairpflege24, die Frauen aus Rumänien beschäftigt. Sie selbst pflegt nicht, hat Verwaltungsaufgaben und betreut die rumänischen Mitarbeiterinnen. Die Agentur wiederum spendet hin und wieder Märchenstunden, wie die in der Klinik.

Märchenerzählerin ist Rodica Wollscheid seit sechs Jahren und jetzt in der Vorweihnachtszeit besonders gefragt. Man könne, sagt sie, vom Märchenerzählen leben, aber sie sei "nicht so diszipliniert". Man könnte auch sagen, es gibt für sie noch so viel anderes zu tun, wofür sie sich begeistern kann.

Das Märchenerzählen hat sie an einer Schule in Bad Wörrishofen gelernt, die Ausbildung dort abgeschlossen. Im Grund dürfte sie jetzt selbst Märchenerzähler ausbilden; doch dafür fehlt die Zeit. Und den Märchenerzählerinnen - meist sind es ja Frauen - mit abgeschlossener Ausbildung fehlt die Anerkennung. Rodica Wollscheid sagt: "Man wird oft belächelt." Dabei sind Märchen ja kein reiner Zeitvertreib. Sie haben durchaus therapeutische Wirkung, werden etwa in der Trauerarbeit eingesetzt. Auch damit kennt sich Rodica Wollscheid aus. Oder mit Märchen, die stark machen. Die erzählt sie dann im Frauenhaus.

Andere stark machen, andere unterstützen, sich um andere kümmern, das ist gewiss eine ihrer persönlichen Stärken. Wie schafft sie das alles? Zumal da ja auch noch die Familie ist; die Kinder Mara, 10, und Nikita, 7, die zur Schule gehen, zum Musikunterricht, zum Sport. Hören die auch gerne mal ein Märchen? Eher nicht, sagt Rodica Wollscheid. Ihre Kinder erzählen lieber selber Märchen. Die Tochter schreibt sogar schon welche. Inzwischen leben Rodica Wollscheids Eltern ebenfalls in Saarbrücken, sie sind aus Rumänien hierher gezogen. Das hilft natürlich. Und wenn der Bruder als Pianist einen Preis gewinnt, scheint das auch sie selbst zu stärken. Eines will sie auf keinen Fall: sich in den Vordergrund drängen. Auch nicht, wenn sie auf einer Bühne steht. Wie im Herbst dieses Jahres im Saarbrücker Theater im Viertel. Damals hat sie bei einem Abend mit dem Titel "Heimatwelten" übersetzt. Die Bühne überließ sie der Roma-Familie, die dort als Chor auftrat und aus ihrem Leben erzählte. Märchenerzählerinnen lernen während ihrer Ausbildung, dass man sich nicht in Pose setzen soll.

Rodica Wollscheid musste man das ganz sicher nicht beibringen. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, ist ruhig, aber bestimmt, offen, freundlich, den Menschen zugewandt - und immer ein wenig in Eile.

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