Die Frau mit dem Kompass

Angela Merkel sammelt in ihrem Dienstzimmer große hölzerne Schachfiguren, jede einen halben Meter hoch. Sie stehen neben ihrem Besprechungstisch am Fenster.

Jährlich bekommt sie eine vom Verband der Waldbesitzer geschenkt. Acht sind es schon. Zwölf sind mit ihrer heutigen dritten Kanzlerwahl in Reichweite, bei 16 hätte sie so lange regiert wie Helmut Kohl. Die britische BBC hat kürzlich ein verwundertes Porträt über diese 59-Jährige gesendet, die es zur mächtigsten Frau der Welt gebracht hat. Wie konnte so jemand so weit kommen? Wie konnte sie sich als Frau aus dem Osten durchsetzen und halten in einer Männerpartei des Westens, die die CDU war, bevor sie kam?

Im Wahlkampf sind einmal die Reden von Angela Merkel und Peer Steinbrück analysiert worden. Was die Rhetorik angeht, verliert sie jedes Duell haushoch, sie kann Säle oder Marktplätze nicht fesseln. Auffällig aber war, dass die Kanzlerin deutlich häufiger als ihr Herausforderer Worte wie "gemeinsam" benutzte, und dass sie deutlich häufiger Positionen ausbalancierte, also auch die Gegenargumente erwähnte. Die Analyse bringt Angela Merkels politische Begabung auf den Punkt: Sie ist die Meisterin der Moderation.

Ihre Machtbasis ist ein Dreieck aus Kanzleramt, Unions-Bundestagsfraktion und CDU, in dem diese Fähigkeit entscheidend ist. 30, vielleicht 40 wirklich wichtige Akteure. Das ist ihr Schachbrett. Angela Merkel ist die Einzige, die es nunmehr 13 Jahre lang als CDU-Vorsitzende geschafft hat, ihre Partei zusammenzuhalten und gleichzeitig ihre eigene Rolle als unentbehrliche Moderatorin immer weiter auszubauen.

Sie konnte das, weil ihr die angeblich so tollen Eigenschaften der politischen Zampanos komplett fehlen, der Selbstdarstellungstrieb, das Dominanzstreben, die Geltungssucht. Das sind die Eigenschaften, mit denen sich ihre meist männlichen Konkurrenten gegenseitig ihr Grab schaufelten. Wenn nicht, half Merkel nach. Norbert Röttgen hat es erfahren. Viele fürchten es. Der Begriff "Mutti" passt auf sie allenfalls in dem Sinne, in dem man auch italienische Clanchefs, die ganz bescheiden in den Bergen leben, "Padrone" nennt.

Im Moment ihres größten Triumphes, am Wahlabend, reichte ihr Generalsekretär Hermann Gröhe eine Deutschlandfahne, man sang ausgelassen auf der Bühne in der CDU-Zentrale. Merkel gab die Fahne sofort weg. Bloß kein Triumphgehabe. Niemand hat einen so scharfen Blick für Fettnäpfchen wie sie, deshalb erwischt man sie dabei auch fast nie. Andere machen solche Fehler, und das sind dann immer Merkels Punkte. Bei der Präsentation des Koalitionsvertrages vor der Bundespressekonferenz produzierten sich Horst Seehofer und Sigmar Gabriel neben ihr mit Witzchen und Sprüchen. Was hängen blieb, war, wie fast erhaben Merkel darüber lächelte. Sie wird eine schöne Zeit haben mit den beiden Zampanos.

Angela Merkel ist die unscheinbare Macht. Geht zum EU-Gipfel, den Euro retten oder Spanien zusammenfalten, und steht ein paar Stunden später im Supermarkt in Berlin-Mitte allein an der Kasse, den Einkauf einpacken. Ihr Mann will morgens schließlich immer sein Frühstück haben. Backt Kuchen auf ihrer Datsche in Brandenburg. Sie ist oft ganz natürlich fröhlich.

Hat sie einen Kompass, will sie überhaupt mehr, als der einzige gemeinsame Nenner in einem parteiinternen Machtdreieck sein? Das ist in Zweifel gestellt worden, zu Recht. Von den Reformansprüchen des Leipziger Parteitages 2003 (Kopfpauschale, Bierdeckelsteuer) ist gar nichts geblieben, von der Klimakanzlerin des G8-Gipfels in Heiligendamm fast nichts. Der Krippenausbau und die Rente mit 67 sind aus der ersten großen Koalition erinnerlich, Projekte, bei denen ihr die SPD half. Die Bildungspolitik interessierte sie erst gar nicht, dann angeblich brennend. Aber nicht nachhaltig. In ihrer zweiten Regierungsperiode schob sich die Euro-Rettung so sehr nach vorne, dass Merkel als Innenpolitikerin fast gar nicht mehr zu erkennen war. Vielleicht auch, weil sie mit der FDP diesbezüglich wenig anfangen konnte. Nur beim Atomausstieg war das anders, aber das war ein Panikbeschluss mitten im Wahlkampf der baden-württembergischen CDU.

Zu Beginn ihrer dritten und wahrscheinlich letzten Amtszeit konzentriert sich Merkel fast nur noch darauf, die europäische Gemeinschaft voranzutreiben. Es gibt kaum eine Rede, in der sie nicht auf China, Indien oder Brasilien hinweist und darauf, wie klein Europa in diesem Konzert ist und wie sehr es sich anstrengen muss. Sie ist nicht wie Margaret Thatcher eine "eiserne Lady", die immer nur Geld zurück will. Sie ist Europas Reform-Domina.

Erstreckt sich dieses Antreiben auch auf Deutschland? Es wirkt so, etwa wenn sie sagt, sie wolle nicht, dass die Asiaten Deutschland wegen seiner schönen Kirchen bewunderten, sondern wegen der vielen Innovationen. "Man kann auch als Museum untergehen", sagt sie. Doch lässt sie seit längerem schon passieren, was diesen Zielen widerspricht, aber für den momentanen Regierungsfrieden erforderlich ist. Auch wenn sie es für Unsinn hält, wie das Betreuungsgeld der CSU oder die teuren Rentenpläne der SPD. Von den Deutschen, so Merkels Wahlanalyse, ist sie nicht für innenpolitischen Mut gewählt worden, sondern dafür, dass sie ihnen das Gefühl gibt, Geld und Wohlstand zu schützen. Dafür, dass sie alles immer zusammenhält und nicht viel passiert. Merkel nennt es Vertrauen.

Seltsam unengagiert wirkte sie in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD. Es gab keinen einzigen Punkt, wo sie gesagt hätte: Das will ich. Außer natürlich zum dritten Mal Kanzlerin werden.

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