Die EU duldet keine „Rosinenpickerei“

Blankes Unverständnis, tiefe Verärgerung und unverhüllte Drohungen – am Tag nach dem Votum der Schweizer gegen „Masseneinwanderung“ war die EU sich einig. „Das Land hat sich selbst geschadet“, kommentierte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier das Ergebnis der Volksbefragung vom Sonntag.

Noch deutlicher wurde sein französischer Amtskollege Laurent Fabius: "Wir werden unsere Beziehungen zur Schweiz überprüfen", sagte er kurz vor einem Treffen der 28 Außenamtschefs in Brüssel. Auch die Kommission drohte unverhüllt, man werde "nun die Folgen für die Gesamtbeziehungen analysieren".

Die Forderung der Eidgenossen nach klaren Kontingenten für Zuwanderer, die innerhalb von drei Jahren eingeführt werden müssen, erschüttert das bisherige Verhältnis tief. Rund 120 Abkommen wurden zwischen der EU und der neutralen Insel mitten in Europa während der letzten Jahrzehnte ausgehandelt. Als Herzstück gilt dabei das Paket von 2002, das den Eidgenossen einen ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt garantiert. Es besteht aus den sogenannten vier Freiheiten: freier Verkehr für Personen, Waren, Kapital und Dienstleistungen. Alle vier Elemente wurden bei der Vertragskonstruktion miteinander verzahnt, sodass man intern von einer "Guillotine"-Klausel spricht. Mit anderen Worten: Wird ein Teil des Abkommens infrage gestellt, ist alles nichtig.

Sollten die Schweizer gedacht haben, die EU würde möglicherweise unter dem Eindruck eines Volksentscheids von diesem Grundprinzip abrücken, haben sie sich getäuscht. Kein Wort wurde gestern so oft in den Mund genommen, wie das von der "Rosinenpickerei, die im Verhältnis zur EU keine dauerhafte Strategie sein kann", wie es Steinmeier und mit ihm gleichlautend Europa-Abgeordnete aller Fraktionen, Kommissionsmitglieder und Diplomaten formulierten. Die EU werde auf eine Verhandlungsinitiative aus Bern warten, hieß es im Umfeld der EU-Kommission, dann aber konsequent klarmachen, dass man "nicht nur einige Freiheiten haben kann". Falls die Alpenrepublik sich "aus Europa verabschieden" oder "abschotten" wolle, sei dies allein ihre Verantwortung, betonten Vertreter der EU-Institutionen.

Die Konsequenzen könnten laut Kommission bis zur Wiedereinführung der Personenkontrollen an den Grenzübergängen reichen. Sollte Bern das Wahlergebnis vom Sonntag umsetzen, würden einreisende Schweizer künftig wieder wie Bürger von Drittstaaten behandelt - inklusive Erfassung der Fingerabdrücke. Die bereits innerhalb der EU lebenden Schweizer müssten sich als Ausländer aus Drittstaaten registrieren lassen. Sie bräuchten eine Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitsgenehmigung. Der Chef des Auswärtigen Parlamentsausschusses, Elmar Brok, mochte so weit noch nicht denken. "Ich kann mir vorstellen, dass die Schweizer jetzt selbst erschrocken sind." Tatsächlich hofft man in Brüssel, dass die politische Diskussion innerhalb der nächsten drei Jahre eine andere Richtung nimmt und es schließlich doch nicht zum radikalen Bruch mit der Union kommt.

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