Die coolen Verlierer

Bielefeld. Deutschlands männlicher Nachwuchs macht Bundesfamilienministerin Kristina Köhler (CDU) Sorgen. "Jungen bleiben häufiger sitzen, sind öfter ohne Ausbildung, machen seltener Abitur", klagt sie in Interviews. Mit einem Budget von bislang rund fünf Millionen Euro will Köhler eine gezielte Jungenförderung anschieben

Bielefeld. Deutschlands männlicher Nachwuchs macht Bundesfamilienministerin Kristina Köhler (CDU) Sorgen. "Jungen bleiben häufiger sitzen, sind öfter ohne Ausbildung, machen seltener Abitur", klagt sie in Interviews. Mit einem Budget von bislang rund fünf Millionen Euro will Köhler eine gezielte Jungenförderung anschieben. So gibt es im April 2011 den ersten offiziellen "Boys' Day" — parallel zum etablierten "Girls' Day". Erziehungswissenschaftler warnen allerdings vor einer "moralischen Panikmache" über die angebliche Krise der jungen Männer. Der Anteil der so genannten Risikoschüler liege zwar bei den Jungen bei knapp zwölf Prozent und damit rund zwei Prozentpunkte höher als bei den Mädchen, sagt der Pädagoge Jürgen Budde vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle. Aber gleichzeitig sei der Anteil der sehr guten Schüler bei Jungen mit 11,8 Prozent höher als bei Mädchen (10,4 Prozent). Im Beruf erhielten sie später die besser dotierten Jobs. Ist die These von den Jungen als Bildungsverlierer also nur eine von den Medien übersteigerte Debatte? Oder sind bei der Mädchenförderung der vergangenen Jahrzehnte die Jungen zu stark in den Hintergrund gerückt? "Das Problem bei den Jungen ist, dass sie entweder bei den Topvertretern sind oder bei den schlechten", urteilt Dörte Jödicke vom bundesweiten Förderprojekt "Neue Wege für Jungs" in Bielefeld. Lehrer beobachteten immer wieder bei Schülern im Mittelfeld, dass sie entweder die Rolle des Klassenclowns übernehmen, um aufzufallen, oder abrutschten. Jungen führten schulische Erfolge eher auf Begabung als auf eigene Anstrengung zurück, erläutert Pädagoge Budde. Auf Misserfolge reagierten sie dann oft gleichgültig. Experten sprächen hier vom "Faulpelz-Syndrom", wonach Jungen lieber als Faulpelz denn als Streber dastehen. Diese "coole Verliererkultur" herrsche vor allem in sozial schwachen Familien vor. "Mädchen sind einfach flexibler, haben deshalb in Schule und Studium die Nase vorn", sagt Jödicke. Auch bei der Berufswahl sei der Blickwinkel von Jungen zu eingeschränkt. 59 Prozent entschieden sich für traditionelle Männerberufe wie Kfz-Mechatroniker. Die Berufe Erzieher und Grundschullehrer lehnten sie als "Weiberkram" ab, schlecht bezahlt, ohne Prestige. Dadurch verbauten sich viele die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sagt Jödicke: "Sie verpassen den Wandel von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft." Das Förderprojekt "Neue Wege für Jungs", das vom Bundesfamilienministerium und dem Europäischen Sozialfonds gefördert wird, will Jungen über Tagespraktika in Kitas, Senioreneinrichtungen und Arztpraxen frauentypische Berufe näher bringen. Ein Drittel von 4000 befragten Schülern habe nach dem Praktikum erklärt, sie könnten sich einen erzieherischen oder pflegerischen Beruf vorstellen, sagt Jödicke. Noch in diesem Jahr soll nach Angaben des Familienministeriums die Bund-Länder-Initiative "Mehr Männer in Kitas" starten.An der Laborschule der Universität Bielefeld entstand bereits in den 90er Jahren aus der Mädchen- eine Jungenförderung. "Boys' oder Girls' Day ist punktuell, wir setzen auf Langzeitwirkung", sagt die didaktische Leiterin Christiane Biermann. An der Reformschule wird ohne feste Klassenverbände bis zum zehnten Schuljahr zusammen gelernt. Die Kinder absolvieren ab Klasse sieben Berufspraktika — von der Kita über das Produktions- zum Dienstleistungsgewerbe. "Jungen sind nicht die neuen Bildungsverlierer, sie brauchen nur länger", urteilt Biermann. Im Unterricht benötigten sie mehr Aufmerksamkeit, schnellere Rückmeldung und straffere Zeiteinheiten bei Aufgaben. Punktuell tue den Schülern nach Geschlechtern getrennter Unterricht gut, sagt Biermann. Zum Wahlfachangebot gehörten Jungenkurse. Dort könnten sie über sportliche Angebote "einfach mal die Sau heraus lassen", erklärt Lehrer Gunnar Uffmann. Gleichzeitig sprechen sie unter sich über Sexualität, Ängste und Gewalt. Sie üben Entspannungstechniken, lernen neue Erfahrungswelten etwa über Blindenfußball kennen. "Während die schüchternen Jungs so mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen, lernen die lautstarken, sich zurückzunehmen." Die vier Berufspraktika hätten ihm den Blick für die Zukunft geöffnet, sagt der 16-jährige Christian aus dem diesjährigen Abschlussjahrgang. Die spätere Rolle als Alleinernährer sehe er nicht für sich. "Ich bin fünffacher Onkel und babysitte viel", erzählt Christian, "ich kann mir also gut vorstellen, später mit meiner Frau die Elternzeit zu teilen und zu Hause zu bleiben." "Das Problem bei den Jungen ist, dass sie entweder bei den Topvertretern sind oder bei den schlechten."Dörte Jödicke vom Förderprojekt "Neue Wege für Jungs"

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