„Die Bundesregierung betreibt Lügenpropaganda“

Obwohl Oskar Lafontaine sich nicht wieder für den Bundestag bewirbt und damit aus der großen Politik ausscheidet, versucht er noch, bundespolitische Akzente zu setzen. Unserem Berliner Korrespondenten Werner Kolhoff erläuterte der 69-jährige Links-Politiker und Ex-Finanzminister die Gründe.

Das Thema "Gute Arbeit" wird im Mittelpunkt der diesjährigen Gewerkschaftskundgebungen zum 1. Mai stehen. Rennt der DGB damit nicht offene Türen ein? Schließlich wollen inzwischen alle Parteien einen Mindestlohn oder Lohnuntergrenzen.

Oskar Lafontaine: Es ist nach wie vor wichtig, für einen gesetzlichen Mindestlohn einzutreten. Unter einer Lohnuntergrenze kann man aber alles Mögliche verstehen. Allerdings macht der DGB einen Fehler, wenn er mit 8,50 Euro pro Stunde einen Mindestlohn fordert, der im Alter zu Hungerrenten führt. Das ist für mich als Gewerkschaftsmitglied völlig unverständlich.

Die Linke verlangt 10,00 Euro. Ist das nicht schlichtweg ein Überbietungswettbewerb?

Lafontaine: Wir orientieren uns an den europäischen Nachbarn und der Rentenformel. Wer sein ganzes Leben arbeitet, muss eine Rente bekommen, die über der Grundsicherung liegt.

Die Beschäftigungsquote ist gestiegen, die Arbeitslosenzahl kräftig gesunken, bei den Tariflöhnen hat es Zuwächse gegeben. Hat die Bundesregierung nicht Recht, wenn sie sagt, dass es den Arbeitnehmern so gut geht, wie lange nicht mehr?

Lafontaine: Die Bundesregierung betreibt Lügenpropaganda. Immer mehr Arbeitnehmer sind im Niedriglohnsektor tätig, immer mehr haben unsichere Arbeitsverhältnisse. Der Verweis auf die Tariflöhne führt in die Irre. Man muss das gesamte Lohnniveau betrachten. Und da ist das traurige Fazit: Seit zehn Jahren haben die Arbeitnehmer Reallohnverluste erlitten, während die großen Vermögen und hohen Einkommen satte Zuwächse verzeichnen.

Die Linke fordert nun eine Vermögensabgabe, will aber Betriebsvermögen nicht ausnehmen. Wollen Sie die Substanz der deutschen Wirtschaft, der kleinen Unternehmen wegsteuern?

Lafontaine: Nein. Unser Modell sieht vor, dass sich Betriebe von der Abgabe freistellen können, indem sie die fällige Steuer in Belegschaftsanteile umwandeln. Dann bleibt die Substanz ganz und gar erhalten.

Das ist eine Art Zwangskollektivierung.

Lafontaine: Nein, die Fabrikanlagen wurden nicht von den Piechs, Quandts oder Klattens erarbeitet und erbaut, sondern von den Belegschaften. Unser Vorschlag macht die Zwangsenteignungen der Belegschaften rückgängig.

Die Linke hat als einzige Partei im Bundestag gegen alle Euro-Rettungspakete gestimmt. Machen Sie einen Anti-Euro-Wahlkampf?

Lafontaine: Ich selbst habe als überzeugter Europäer den Euro lange Jahre befürwortet. Denn ich ging davon aus, dass es gelingen würde, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer zu koordinieren, vor allem die Lohnpolitik. Das ist leider nicht eingetreten. In Südeuropa sind die Löhne und Ausgaben zu stark gewachsen, während in Deutschland ein massives Lohndumping betrieben wurde. Jetzt sollten wir zum früheren europäischen Währungssystem zurückkehren, das Auf- und Abwertungen nach gegenseitigen Absprachen ermöglicht. Neben dem Euro müssen dazu wieder nationale Währungen eingeführt werden.

Mit dieser Position findet dann wahrscheinlich die Linke in der "Alternative für Deutschland" ihren Überbietungssieger. Die zieht nämlich mit der Losung "Wir wollen die D-Mark wiederhaben" in den Wahlkampf.

Lafontaine: Die "Alternative für Deutschland" will die Währungen weiter dem Markt und damit der Spekulation überlassen. Das geht immer schief. Der entscheidende Unterschied bei meinem Vorschlag ist, dass wir wieder zu einem geordneten, abgestimmten Prozess des Auf- und Abwertens kommen.

Man merkt Ihnen Ihre ungebrochene Lust an der großen Politik an. Warum wollen Sie trotzdem nicht wieder für den Bundestag kandidieren?

Lafontaine: Als Politiker sollte man versuchen, den Zeitpunkt seines Ausscheidens so zu bestimmen, dass ein paar Leute das noch bedauern. Ich habe über 40 Jahre lang wichtige politische Positionen übernommen. Da schien es mir nun an der Zeit. Aber ich werde wie bisher die Linke im Bundestagswahlkampf unterstützen. Nach allen Umfragen wird meine Partei wieder in den Bundestag einzuziehen. Das ist mir das Wichtigste.

Dann könnte die Linke Zünglein an der Waage werden. Würden Sie Ihrer Partei raten, eine rot-grüne Minderheitsregierung zu tolerieren oder gar ein rot-rot-grünes Bündnis einzugehen?

Lafontaine: Diese Frage müssen Sie uns nicht stellen, sondern SPD und Grünen. Beide Parteien erklären seit Jahren, dass sie mit uns nicht zusammenarbeiten wollen. Ich habe in der vorletzten Legislaturperiode, als die Mehrheitsverhältnisse das zuließen, angeboten, einen sozialdemokratischen Kanzler mitzuwählen. Voraussetzung war der gesetzliche Mindestlohn, eine deutliche Verbesserung bei Hartz IV, eine Änderung der Rentenformel und der Rückzug aus Afghanistan. Die SPD hat sich verweigert. Wenn SPD und Grüne nun in ihren Wahlprogrammen soziale Verbesserungen versprechen, ist das Wählertäuschung. Denn mit der CDU, die ihnen einzig als Koalitionspartner bleibt, ist fast alles bekanntlich nicht umsetzbar.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort