Die bewegenden Worte des Überlebenden

Berlin. Die meisten verstehen nur Satzfetzen, Fragmente. Aber sie verstehen, dass es Fragmente des Grauens sind und dass die Satzfetzen von einem gesprochen werden, der dieses Grauen selbst erlebt hat. Marcel Reich-Ranickis Stimme ist brüchig geworden in seinem 92. Lebensjahr und seit dem Tod seiner geliebten Frau Teofila vor neun Monaten

 Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus legte Landtagspräsident Hans Ley gestern am ehemaligen Gestapolager in Saarbrücken einen Kranz nieder. Bei einer Feierstunde berichtete zuvor der frühere israelische UN-Botschafter Professor Yehuda Blum, der das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebte, aus seinem Leben. Foto: B&B

Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus legte Landtagspräsident Hans Ley gestern am ehemaligen Gestapolager in Saarbrücken einen Kranz nieder. Bei einer Feierstunde berichtete zuvor der frühere israelische UN-Botschafter Professor Yehuda Blum, der das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebte, aus seinem Leben. Foto: B&B

Berlin. Die meisten verstehen nur Satzfetzen, Fragmente. Aber sie verstehen, dass es Fragmente des Grauens sind und dass die Satzfetzen von einem gesprochen werden, der dieses Grauen selbst erlebt hat. Marcel Reich-Ranickis Stimme ist brüchig geworden in seinem 92. Lebensjahr und seit dem Tod seiner geliebten Frau Teofila vor neun Monaten. Der literarische Zeigefinger sticht nicht mehr in die Luft. Nur das Lispeln ist noch da, aber nicht mehr die Lautstärke und kräftige Modulation, die seine Reden früher regelrecht explodieren lassen konnte.Und doch herrscht völlige Stille im Saal, als er geendet hat. Beklemmende Stille. Erst als Bundespräsident Christian Wulff zu dem alten Mann geht und ihm aus seinem Stuhl aufhilft, fangen die Abgeordneten und Ehrengäste an zu klatschen.

Der Bundestag hat eine denkwürdige Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus erlebt, am 67. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Über der Veranstaltung lag diesmal etwas mehr Spannung als sonst, wegen der gerade aufgedeckten Mordserie der Neonazis, wegen der gerade veröffentlichten Studie über den verbreiteten Antisemitismus in Deutschland, und auch, weil Wulff gerade eine heftige Affäre am Hals hat. Der Bundespräsident sitzt auf einem Ehrenstuhl vor den Reihen der Abgeordneten, genau da, wo er vor eineinhalb Jahren im Mai unmittelbar nach seiner Wahl auch saß, kurz bevor es zur heute so umstrittenen Fete am Brandenburger Tor ging. Der Präsident mag spüren, dass viele Kameras auf ihn gerichtet sind. Er zeigt kein Lächeln, keine Regung, sondern konzentriert sich ganz darauf, den Gastredner mitfühlend auf dem Weg zum Pult und zurück zu stützen. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hält eine kurze Eröffnungsansprache. Er bekommt Beifall, als er sagt, das 20 Prozent Deutsche mit antisemitischen Einstellungen "genau 20 Prozent zu viel sind", und als er zum zivilen Bürger-Widerstand gegen die Neonazis aufruft: "Wir dulden eure Diffamierungen, euren Hass nicht. Schon gar nicht eure Gewalt."

Dann ist Marcel Reich-Ranicki dran. Er klappt sein Manuskript auf und blickt einige Sekunden lang etwas verwirrt um sich. Kanzlerin Angela Merkel ermuntert ihn schließlich mit einer Geste, jetzt anzufangen. Also redet Reich-Ranicki langsam und leise, mit krächzender Stimme los. Er spreche hier nicht als Historiker, sagt er, sondern als Zeitzeuge. "Genauer: Als Überlebender des Warschauer Ghettos."

Im Folgenden liest er, etwas gerafft, eines der ergreifendsten Kapitel aus seinem Buch "Mein Leben" vor. Er schildert den Tag, an dem die SS den Judenrat zusammenruft und ihm verkündet, dass das Warschauer Ghetto aufgelöst und alle Bewohner "umgesiedelt" werden. Der 22. Juli 1942. Reich-Ranicki, damals 22 Jahre alt, schreibt das Protokoll dieses Treffens und diktiert es hinterher seiner Mitarbeiterin. "Ihr also, Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS über die Juden von Warschau gefällt hatte."

Fast wie eine Kamera, minutiös und ohne Wertungen, aber genau dadurch seinen Wert als Zeitzeuge noch steigernd, zeichnet Reich-Ranicki diese Tage nach, die beginnenden Deportationen und Erschießungen, den Selbstmord des Obmanns des Judenrates, Adam Czerniaków, von dem die SS immer mehr "umzusiedelnde" Juden fordert, auch seine eigene Nothochzeit mit seiner Liebe Teofila. Denn die Angehörigen der Mitglieder des Judenrates durften zunächst noch bleiben. Zu Beginn der Rede fragt sich der Protokollant Reich-Ranicki, was die SS mit "Umsiedlung" wohl meint. Zu welchem Zweck, wohin? Der letzte Satz der Rede lautet: "Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod."

Die Ehrentribüne ist voll, viele Rabbiner sind da, Vertreter der Jüdischen Gemeinde, ehemalige Bundestagsabgeordnete. Im Saal selbst darf auch eine Gruppe von Jugendlichen sitzen, die an einer Jugendbegegnung zum Thema Auschwitz und Holocaust teilnehmen. Kaum jemand hat zwar verstanden, was Reich-Ranicki da genau gesagt hat. Die Redemanuskripte sind hinterher schnell vergriffen. Aber allen ist es wichtig gewesen, ihn zu hören und zu sehen, einen der das alles, was nun immer mehr im Nebel der Geschichte zu verschwinden droht, selbst erlebt hat. Und dazu noch einen, der einmal formulierte, er habe dieses Grauen nur "mit Hilfe der Liebe, der Poesie und der Musik" aushalten können. Einen tiefen Humanisten. Antje Vollmer gehörte in den 90er Jahren zu den Mitinitiatoren dieses Gedenktages. Sie ist stolz darauf, dass er sich so etabliert hat. Sie ist begeistert über Reich-Ranickis Auftritt. Und sie fragt sich, wer wohl demnächst reden wird, wenn es solche wie ihn nicht mehr gibt. "Nicht als Historiker spreche ich,

sondern als Überlebender."

Marcel Reich-Ranicki

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