"Die Angst vor der Wahrheit ist riesig"

Herr Nuzzi, wie ist das Innenleben der Kurie?Nuzzi: Es gibt verschiedene Machtgruppen und Interessen, die sich teilweise bekämpfen, aber auch überlagern. Es gibt enormen Ehrgeiz, Karrieristen, Verschwörungen, krumme Geschäfte und Korruption. Zuletzt war auch noch von einer Homosexuellen-Lobby die Rede

Herr Nuzzi, wie ist das Innenleben der Kurie?

Nuzzi: Es gibt verschiedene Machtgruppen und Interessen, die sich teilweise bekämpfen, aber auch überlagern. Es gibt enormen Ehrgeiz, Karrieristen, Verschwörungen, krumme Geschäfte und Korruption. Zuletzt war auch noch von einer Homosexuellen-Lobby die Rede.

Ist das ernst zu nehmen?

Nuzzi: Durchaus, homosexuelle Beziehungen sind im kirchlichen Milieu ein Element, das Abhängigkeiten und Erpressungen begünstigen kann. In der Kurie wird das übrigens sehr relativ gesehen.

Was meinen Sie damit?

Nuzzi: Paolo Gabriele, der ehemalige Kammerdiener Benedikts XVI., erzählte mir von einem Kardinal und sagte über ihn, der hätte "das Laster". Ich fragte ihn, was er denn damit meine. Paolo sagte, der Kardinal habe sexuelles Interesse an Kindern. Das klang so, als ob dieses "Laster" in der Kurie weit verbreitet sei. Paolo sprach darüber in einem Ton, als ob das nichts Besonderes sei, sondern durchaus vorkomme. Das macht sehr nachdenklich.

Ein anderer Vorwurf ist der der Korruption, man hat aber nie von konkreten Fällen gehört.

Nuzzi: Doch, diese Vorwürfe sind sehr konkret. Da geht es um Firmen, die Aufträge aus dem Vatikan bekommen und zu diesem Zweck Kirchenfunktionäre bestechen, Mitarbeiter der Behörden, die Entscheidungen fällen oder steuern können. Den Vorwurf hatte Bischof Carlo Maria Viganò, Generalsekretär des Governatorats, also der Staatsverwaltung des Vatikan, erhoben. Viganò nannte auch Vor- und Nachnamen.

Viganò wurde anschließend als Nuntius nach Washington wegbefördert, er ist eine der Schlüsselfiguren des "Vatileaks"-Skandals. Wie operieren die Lobbys im Vatikan, die auch seine Versetzung erwirkten?

Nuzzi: Diese sogenannten Seilschaften sind Macht- und Interessengruppen in der Kurie. Einer der stärksten Pole war Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone. Für ihn ist Macht ein Selbstzweck, sie ist sein einziges Ziel.

Die Rolle Bertones, der als Kardinalstaatssekretär zweiter Mann im Vatikan und eine Art Regierungschef war, macht aber auch stutzig. Ratzinger hat sich mehrmals öffentlich hinter ihn gestellt und ihn verteidigt.

Nuzzi: Das ist wirklich ein großes Fragezeichen. Aber Bertone hat von allen Seiten Kritik auf sich gezogen. Er ist der Gegenspieler von verschiedenen Kardinälen, etwa von Kardinaldekan Angelo Sodano oder dem Vorsitzenden der Italienischen Bischofskonferenz Angelo Bagnasco. Da gab es Eifersüchteleien und inhaltliche Differenzen.

Wer steckt hinter den Lobbys?

Nuzzi: Es gibt das Bertone-Lager. Es gibt die Diplomaten, die alle aus der vatikanischen Diplomatenschule hervorgegangen sind. Ihr Chef ist Sodano. Dann gibt es die Genua-Connection, zu denen gehören Kardinal Mauro Piacenza, er wird als künftiger Kardinalstaatssekretär gehandelt, und Bischof Ettore Balestrero, der gerade als Nuntius nach Kolumbien entsendet wurde. Die Gruppen haben verschiedene Vorstellungen von Politik, von der katholischen Lehre, und sie ringen um Einfluss. Auch Gruppen wie Opus Dei, die Legionäre Christi oder die Laienbewegung Comunione e Liberazione sind einflussreich.

Auf was für ein Milieu sind Sie im Vatikan gestoßen?

Nuzzi: Das ist eine stumme Welt, in der die Leute große Furcht haben, zu sprechen. Es ist eine bedrückende Atmosphäre, alles wird kontrolliert. Die Menschen in diesem Staat leben wie unter einer großen Haube. Es gibt keine Informationen. Transparenz ist ein Fremdwort.

Warum ändert sich das nicht?

Nuzzi: Ich habe schon viele investigative Recherchen hinter mir, auch in Bereichen wie Politik oder Mafia. Nirgendwo ist die Angst, die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen, so groß wie im Vatikan.

Welche Reaktionen gab es im Anschluss an die Veröffentlichungen der geheimen Dokumente?

Nuzzi: Sie werden es nicht glauben, aber ich habe Dutzende Briefe von Priestern bekommen, die mich in meinen Recherchen bestärkten. Andere warfen mir einen Angriff auf die Kirche vor, aber das war ja nun keine Überraschung.

Wird "Vatileaks" die Wahl des neuen Papstes beeinflussen?

Nuzzi: Wenn ich als armer Sünder einen bescheidenen Wunsch äußern dürfte, dann würde er so lauten: Ich wünsche mir, dass weder der Papst noch der Kardinalstaatssekretär Italiener sein werden. Die italienischen Kardinäle sind allesamt viel zu verstrickt in den Sumpf.Foto: Guido Clerici

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