Die Angst nach dem Abmarsch

Leise und heimlich ziehen sich die US-Truppen aus dem Irak zurück. Dieser Abzug macht, außer den Terroristen und Aufständischen, niemanden so richtig glücklich. Denn der Irak ist heute - mehr als sieben Jahre nach dem Sturz von Präsident Saddam Hussein - immer noch eine Republik der Angst

 Ein US-Soldat blickt auf das Siegestor auf einem früheren Paradeplatz in Bagdad. Die Kampfoperationen der USA im Irak sind nach US-Medienberichten offiziell beendet. Foto: dpa

Ein US-Soldat blickt auf das Siegestor auf einem früheren Paradeplatz in Bagdad. Die Kampfoperationen der USA im Irak sind nach US-Medienberichten offiziell beendet. Foto: dpa

Leise und heimlich ziehen sich die US-Truppen aus dem Irak zurück. Dieser Abzug macht, außer den Terroristen und Aufständischen, niemanden so richtig glücklich. Denn der Irak ist heute - mehr als sieben Jahre nach dem Sturz von Präsident Saddam Hussein - immer noch eine Republik der Angst. War es früher die Angst vor den Schergen des Regimes und der Kriegslust des Diktators, so ist es heute die Angst vor Al-Qaida-Terroristen und kriminellen Milizen, die sich nach dem Einmarsch der Amerikaner im Zweistromland einnisten konnten. Diese Angst bestimmt den Alltag und verhindert, dass die Menschen ihre neue politische Freiheit genießen können. "Ich glaube, dass es im Irak inzwischen viele Menschen gibt, die so leben wie ich - in ständiger Panik", sagt die Lehrerin Ibtihadsch Saadi aus Bagdad. Die Mutter von vier Kindern lässt sich jeden Morgen von ihrem Ehemann zur Arbeit bringen. Nach Unterrichts-Ende wartet die 39-Jährige im Schulgebäude, bis er wieder kommt, um sie abzuholen. Seitdem einer ihrer Brüder im Dezember 2003 entführt wurde, geht die Sunnitin praktisch nicht mehr alleine vor die Tür. Der Bruder blieb verschwunden. Ihre anderen Brüder flohen nach Jordanien. Der US-Truppenabzug macht der gläubigen Muslimin jetzt zusätzlich Angst: "Dass die Gewalt in den vergangenen Monaten wieder zugenommen hat, ist ein Warnsignal. Es zeigt uns, dass jeder Abzug der Amerikaner für unser Land große Gefahren birgt." Saddam und seinem Regime trauert Ibtihadsch Saadi nicht nach. Doch auch die neue Politikerklasse flößt ihr kein Vertrauen ein. Ihr Fazit: "Hier im Irak war die Demokratie eine Totgeburt." Sogar Saddams ehemaliger Außenpolitiker Tarik Asis, der in Bagdad im Gefängnis sitzt, ist jetzt gegen den Abzug der Amerikaner, die ihn 2003 gefangen genommen hatten. Vor einigen Tagen kritisierte er in einem Interview US-Präsident Barack Obama dafür, dass er an den von seinem Vorgänger George W. Bush ausgehandelten Abzugsplänen festhält: "Obama ist ein Heuchler, er überlässt den Irak den Wölfen." Bis auf 6000 Angehörige einer Spezialeinheit haben in den vergangenen fünf Tagen fast alle amerikanischen Kampftruppen den Irak schon verlassen. Dieser Abzug wird nach Einschätzung der Kommandeure der irakischen Armee aber nicht sofort zu einer deutlichen Verschlechterung der ohnehin schon sehr instabilen Sicherheitslage führen. Denn bis Ende 2011 bleiben noch 50 000 US-Soldaten im Land. Diese sollen neben ihren Aufgaben bei der Ausbildung der irakischen Armee und Polizei auch Hilfe leisten, wenn die einheimischen Truppen bei einem Einsatz gegen Terroristen in Bedrängnis geraten sollten.Die eigentliche Reifeprüfung für die irakischen Truppen steht also erst Ende kommenden Jahres an. Diesen Test werden sie nach Einschätzung des Generalstabschefs der irakischen Armee, Babaker Sebari, nicht bestehen. Er warnt, die volle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte werde frühestens 2020 erreicht sein. Die irakische Armee hat in der Vergangenheit gezeigt, dass sie überfordert ist, wenn es darum geht, gleichzeitig Al-Qaida-Terroristen und schiitische Milizen zu bekämpfen. Auch aus der Türkei einsickernde PKK-Terroristen und iranische Soldaten haben die Truppen von Babaker Sebari nicht zu fürchten. Um die Polizei ist es noch schlechter bestellt. Die Korruption von Polizeibeamten macht es Terroristen leicht, Politiker, Journalisten und andere Zivilisten zu töten. Ein trauriges Bild bietet derzeit auch die zerstrittene politische Führung in Bagdad. Sie ist fünf Monate nach der Parlamentswahl noch weit von der Bildung einer neuen Regierung entfernt.

HintergrundEtappen des Irak-Krieges20. März 2003: Eine US-geführte Streitmacht marschiert in den Irak ein.April 2003: US-Truppen nehmen die Hauptstadt Bagdad ein und stürzen das Regime von Saddam Hussein, das angeblich über Massenvernichtungswaffen verfügt. Der irakische Diktator wird im Dezember gefasst und drei Jahre später hingerichtet.Mai 2003: US-Präsident George W. Bush verkündet das Ende der Hauptkampfhandlungen. Die Lage bleibt jedoch instabil: Bislang mehr als 2100 Bombenanschläge mit mindestens 20 000 Toten.April 2004: Bilder von irakischen Gefangenen aus dem Gefängnis Abu Ghraib werden veröffentlicht: Zu sehen sind US-Soldaten, die Iraker erniedrigen und misshandeln. Juni 2004: Formelles Ende der Besatzung. Eine Übergangsregierung wird gebildet. Beginn des Zerfalls der anfangs nahezu 200 000 Mann starken Kriegskoalition aus 40 Ländern.Dezember 2005: Erste Parlamentswahlen nach Saddam-Sturz: Regierung der nationalen Einheit. November 2006: Einem US-Militärbericht zufolge gibt es mehr als 960 Anschläge pro Woche. Dezember 2007: Die Briten übergeben die Provinz Basra den irakischen Behörden. Im Juli 2009 ziehen sie sich zurück. September 2008: Die USA übergeben die westliche Provinz Anbar. Im Jahr darauf Rückzug aus Bagdad und anderen Städten.März 2009: Der neue US-Präsident Barack Obama kündigt den Abzug der meisten US-Soldaten bis Ende August 2010 an.März 2010: Keine eindeutige Mehrheit bei Parlamentswahl. Bis jetzt hat der Irak noch keine neue Regierung. dpa

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