Die Angst der SPD vor einem HeckenschützenYpsilantis Albtraum vom "Heidemörder"

Fulda/Frankfurt. SPD und Grüne in Hessen haben den Schluss-Countdown zur Abwahl von Ministerpräsident Roland Koch (CDU) und zur Regierungsübernahme eingeleitet. Mit überwältigenden Mehrheiten billigten die Parteien am Wochenende ihre Koalitionsvereinbarung. Morgen wollen sie gemeinsam mit der Linkspartei die SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti zur neuen Regierungschefin wählen

 Für Ypsilanti (re.) wird die Abstimmung morgen zur Nervenprobe. Wird ihr SPD-Vize Jürgen Walter (li.) seine Stimme geben? Foto: dpa

Für Ypsilanti (re.) wird die Abstimmung morgen zur Nervenprobe. Wird ihr SPD-Vize Jürgen Walter (li.) seine Stimme geben? Foto: dpa

Fulda/Frankfurt. SPD und Grüne in Hessen haben den Schluss-Countdown zur Abwahl von Ministerpräsident Roland Koch (CDU) und zur Regierungsübernahme eingeleitet. Mit überwältigenden Mehrheiten billigten die Parteien am Wochenende ihre Koalitionsvereinbarung. Morgen wollen sie gemeinsam mit der Linkspartei die SPD-Vorsitzende Andrea Ypsilanti zur neuen Regierungschefin wählen.

Doch während die Landesmitgliederversammlung der Grünen in Frankfurt erwartungsgemäß einig verlief, ist bei der SPD Feuer unter dem Dach. Ypsilantis Stellvertreter Jürgen Walter stellte sich beim Landesparteitag in Fulda offen gegen den Koalitionsvertrag, in der er eine Gefährdung von Arbeitsplätzen sieht. Auf die Frage, ob er Ypsilanti dennoch wählen werde, erwiderte er nur, dazu habe er alles gesagt. In der Tat hat Walter mehrfach erklärt, dass er Ypsilanti bei einem entsprechenden Votum der Partei unterstützen werde. Mindestens genauso oft hat er aber auch zu Protokoll gegeben, dass er eine Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung durch die Linke für falsch hält.

Unter den Parteitagsdelegierten in Fulda war er damit am Samstag zwar hoffnungslos in der Minderheit. Doch im Landtag hängt Ypsilantis Schicksal von einer einzigen Stimme ab. Denn die SPD-Abgeordnete Dagmar Metzger widersetzt sich ohnehin einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei. So bringen die verbleibenden Sozialdemokraten zusammen mit Grünen und Linken gerade die zur Ministerpräsidenten-Wahl erforderlichen 56 Mandate auf. Da die Abstimmung geheim ist, wird seit Monaten über einen möglichen Heckenschützen aus Ypsilantis Lager spekuliert.

Nachdem ein erster Anlauf im Frühjahr an Metzger scheiterte, hat die Parteichefin diesmal ihre Vorkehrungen getroffen. Sie ließ die Partei diskutieren und drängte so die Skepsis gegenüber ihrem Kurs zurück. Zudem sprach sie mit allen Abgeordneten ihrer Fraktion unter vier Augen und ließ eine Probeabstimmung abhalten. Deshalb gab sie sich überzeugt, dass alle bis auf Metzger zu ihr halten werden - auch Walter. Gleichwohl soll es am Montagabend - 16 Stunden vor der Wahl - noch eine Probeabstimmung geben.

Walter ließ in Fulda manchen Parteifreund ratlos über seine Beweggründe zurück. Schließlich hatte er den Vertrag, den er kritisierte, selbst mit ausgehandelt und anschließend auch im Landesvorstand dafür gestimmt. Die Risiken entdeckte der gelernte Jurist nach eigener Aussage erst später. Doch so dezidiert er nun seine Ablehnung begründete - bei der Abstimmung saß er nicht auf dem Podium, und auch im Saal wurde er nicht gesehen.

Auch bei den Grünen in Frankfurt war Walter Gesprächsthema. Der Grünen-Landeschef und designierte Umweltminister Tarek Al-Wazir rief die Sozialdemokraten auf, den Regierungswechsel nicht am internen Streit scheitern zu lassen. Die Ökopartei präsentierte sich selbstbewusst. Sie habe im Koalitionsvertrag viele ihrer Inhalte untergebracht, sagte Al-Wazir. In der neuen Regierung sollen die Grünen neben dem Umweltressort erstmals in einem Flächenland das Kultusministerium übernehmen. Selbst den "schmerzhaften Kompromiss" zum Ausbau des Frankfurter Flughafens, den die Grünen eigentlich ablehnen, konnte Al-Wazir seinen Parteifreunden verkaufen. Frankfurt/Kiel. Bei den hessischen Sozialdemokraten werden dieser Tage böse Erinnerungen wach. Denn es ist nicht ganz auszuschließen, dass ihre Chefin Andrea Ypsilanti mit ihrer hauchdünnen Mehrheit im Wiesbadener Landtag am Dienstag ein ähnliches Debakel erlebt wie einst ihre Genossin Heide Simonis. Beim Versuch, sich als schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin wählen zu lassen, scheiterte Simonis am 17. März 2005 gleich in vier Wahlgängen.

Die einzige Ministerpräsidentin der Bundesrepublik wurde damals kalt erwischt. Einstimmig hatte ein SPD-Sonderparteitag Simonis' Plan gebilligt, eine vom dänisch orientierten Südschleswigschen Wählerverband (SSW) tolerierte rot-grüne Minderheitsregierung zu bilden. Doch bei der geheimen Abstimmung im Landtag verweigerte ihr ein Abgeordneter aus dem Lager von SPD, Grünen und SSW die entscheidende Stimme. Statt der erforderlichen 35 Stimmen erhielt Simonis im ersten Wahlgang nur 34, ihr CDU-Gegenkandidat Peter Harry Carstensen 33 Stimmen. Auch der zweite und dritte Wahlgang ergab nur ein Patt von jeweils 34 Stimmen bei einer Enthaltung. Die SPD-Fraktion organisierte daraufhin eine Geheimabstimmung, bei der alle 29 Abgeordneten geschlossen für Simonis stimmten. Die wagte angesichts der vermeintlichen Mehrheit einen vierten Wahlgang - ein fataler Fehler, denn der Abweichler schlug erneut zu. Den Tränen nahe verließ die damals 61-jährige Simonis das Kieler Landeshaus und erklärte einen Tag später ihren Rückzug von allen politischen Ämtern. Carstensen wurde im April 2005 zum Ministerpräsidenten einer großen Koalition gewählt. Der Abweichler ging als "Heidemörder" in die Geschichte ein. Simonis gibt an, ihn zu kennen. Mangels Beweisen verrät sie aber nur, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen Genossen handelt. afp

Hintergrund

 Die hessischen Grünen stimmten mit ihrem Parteichef Tarek Al-Wazir (vorne) am Wochenende für den Koalitionsvertrag. Foto: dpa

Die hessischen Grünen stimmten mit ihrem Parteichef Tarek Al-Wazir (vorne) am Wochenende für den Koalitionsvertrag. Foto: dpa

Roland Koch (CDU), Hessens geschäftsführender Ministerpräsident, sitzt in der Staatskanzlei schon auf gepackten Kisten. Falls SPD-Chefin Andrea Ypsilanti morgen zur Ministerpräsidentin gewählt werde, wolle er sofort die Staatskanzlei verlassen, sagte Koch dem HR. "Es ist alles so vorbereitet, dass wir sofort raus können. Aber auch sofort wieder rein." ddp

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