Deutschland wird bunter

Saarbrücken. "Es bewegt mich, dass die evangelische Kirche jetzt diesen Schritt gegangen ist", kommentierte Margot Käßmann vorgestern gerührt ihre Wahl zur Ratspräsidentin der EKD. Eine Frau, dazu eine geschiedene, an der Spitze der rund 25 Millionen evangelischen Christen in Deutschland - das war vor sechs Jahren für viele offenbar nur schwer denkbar

Saarbrücken. "Es bewegt mich, dass die evangelische Kirche jetzt diesen Schritt gegangen ist", kommentierte Margot Käßmann vorgestern gerührt ihre Wahl zur Ratspräsidentin der EKD. Eine Frau, dazu eine geschiedene, an der Spitze der rund 25 Millionen evangelischen Christen in Deutschland - das war vor sechs Jahren für viele offenbar nur schwer denkbar. Auch damals war die charismatische und kompetente Reformerin Margot Käßmann schon für den Posten gehandelt worden. Doch hatte man ihr da Wolfgang Huber vorgezogen.Dass sich in der deutschen Gesellschaft, die auch fürderhin im europäischen Vergleich als eine der eher konservativen gilt, ein beachtlicher (Werte-)Wandel vollzogen hat, spiegelt sich auch im neuen schwarz-gelben Kabinett: Eine Frau an der Spitze der Republik, Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist inzwischen nicht einmal mehr für unverbesserlich Konservative mehr ein Stein des Anstoßes. Auch nicht dass Merkel als Geschiedene einer "C"-Partei die Richtung vorgibt. Dass nun aber ein bekennender Homosexueller Außenminister (Guido Westerwelle, FDP) ist und ein gebürtiger Vietnamese mit erfolgreicher "Migrations"-Biografie (Philipp Rösler, FDP) Gesundheitsminister, spricht umso mehr für eine weltoffene und freiheitliche Gesellschaft. Und dass die Bundeshauptstadt und die zweitgrößte Metropole Deutschlands, Hamburg, jemals von zwei Homosexuellen - Klaus Wowereit (SPD) und Ole von Beust (CDU) - regiert würden, hätten selbst die wilden 68er kaum zu träumen gewagt. Der US-Politikwissenschaftler Richard Florida ist überzeugt, dass Liberalismus eine Gesellschaft voranbringt: Um die kreative Elite anzuziehen, sagt er, muss eine Metropole eine kulturell und international gemischte, offene und unkonventionelle Atmosphäre bieten. Auch Christian Rauch, Soziologe am Zukunftsinstitut in Kelkheim, sieht in Deutschland zunehmend starre Barrieren fallen. Anders als für Westerwelle, der mit seiner Homosexualität dezent umgehe, zelebriere Wowereit das Schwulsein beinahe als Lifestyle-Symbol für eine Stadt, die sich weltoffen, liberal und kulturell vielseitig gebe. Vieles hat sich Rauch zufolge auch durch die Informations- und Mediengesellschaft verändert: Von den Volksvertretern werde Transparenz und Authentizität, also Durchschaubarkeit und Echtheit, erwartet. Zugleich sei die Politik heute keine reine Inszenierungsbühne mehr, und man könne sich auch nicht mehr auf die reine Fachkompetenz, die Professionalität zurückziehen. Rauch bewertet diese Entwicklung durchaus als "wichtigen Moment in der Kulturleistung der Gesellschaft". Dazu gehöre andererseits auch, dass das Geschlecht und der familiäre Hintergrund nicht das einzig bestimmende Element für eine (politische) Karriere mehr ist. Und doch: Die Barrieren für Frauen mit Familien im Job sieht Rauch in Deutschland nach wie vor sehr hoch. Zwar wird Deutschland an vielen Spitzenpositionen weiblicher - doch in eben jenen luftigen Höhen auch kinderloser. In der Ministerinnen-Riege sind Mütter die Ausnahme: Kinderlos sind neben Angela Merkel auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Ilse Aigner (CSU) und Annette Schavan (CDU). Auch in den Biografien politischer Schwergewichte wie Grünen-Chefin Claudia Roth, SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles oder der Linken-Frontfrau Petra Pau kommt Nachwuchs nicht vor. Immerhin wird mit Simone Bagel-Trah bald erstmals eine Frau und zweifache Mutter der Spitze eines Dax-Unternehmens stehen: Als Henkel-Erbin wird sie Chefin des Konzerns und damit eine der mächtigsten Frauen der deutschen Wirtschaft - wo weibliche Spitzenkräfte nach wie vor Mangelware sind. Aber auch dort wird sich, davon ist Soziologe Christian Rausch überzeugt, durch ökonomische Zwänge ein Umdenken vollziehen: Fachkräftemangel, demografische Veränderungen und Wettbewerbsdruck werden künftig weit mehr Frauen als bisher in wirtschaftliche Führungspositionen bringen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort