Der Unnahbare findet seine Vollendung

Er ist nicht der Typ, der abhebt. Wäre er das, würde er sich zum Beispiel die internationalen Pressestimmen nach dem 7:1-Sieg gegen Brasilien auf die Unterarme tätowieren lassen.

Oder den WM-Pokal, den sein Team gestern holte. Wird er aber wohl nicht, trotz Vorteilen: Joachim Löw würde sich so nicht nur ein Leben lang an dieses unglaubliche Turnier erinnern, er würde auch Körperschmuck-technisch näher an seine Spieler rücken.

Aber das ist nicht Joachim Löw . Er ist auch keine Vaterfigur wie Luiz Felipe Scolari, kein Sympathie-Schwamm wie Rudi Völler oder extrovertiert wie José Mourinho . Nein, Joachim Löw scheint mit seinen 54 Jahren eher ein Freund der Distanz. Nicht unfreundlich, dennoch unnahbar und als Model für Pflegeprodukte auch kein Typ für die Clubheim-Theke. Löw bei der Autowäsche in der Hofeinfahrt? Undenkbar. Nicht nur, weil er gerade keinen Führerschein mehr hat, sondern weil er eher der modebewusste Typ mit Tönung im Haar ist. Einer, der im Szeneviertel beim Brunch eine Soja-Latte zu seinem Müsli mit Leinsamenöl isst und dazu "Die Zeit" liest.

Die Wochenzeitung war eines der wenigen Blätter, die während der WM sinngemäß schrieben: "Lasst doch mal den Jogi in Ruhe, er hat einen Plan - und der ist gut." Das war nach dem Achtelfinale gegen Algerien . Also nach diesem elenden Gekicke, das ein längst vergessenes Wort in die Kleinhirne der Fußballfans zurückkatapultierte: "Rumpelfußball". Dieses Wort muss für Löw schlimmer sein als ein Strandlauf mit Katrin Müller-Hohenstein. Da nützte auch seine starke Bundestrainer-Bilanz nichts: 111 Spiele, 76 Siege, 20 Remis, 15 Niederlagen waren es noch vor dem gestrigen WM-Finale.

Dieses Spiel gegen Algerien , vor allem die erste Halbzeit, muss auch Löw wehgetan haben. Die Fans hätten ihn danach am liebsten entlassen. Vielleicht hat er daher die Mannschaft umgestellt. Vielleicht gehörte es aber auch tatsächlich zu seinem Plan, Philipp Lahm wieder in die Abwehr zu schicken, sobald Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger wieder fit waren. Man weiß es nicht. Auf jeden Fall überraschte er mit diesen Umstellungen nicht nur die Clubheim-Theken.

Wenn es eine Konstante gibt in seiner Trainer-Karriere, die er 1994 bei der D-Jugend des FC Winterthur begann, ist es die: Er ist stur. Was das Volk forderte, lieferte Löw bisher nie. Ob Nominierung, Auf- oder Einstellung. Löw ging meist seinen eigenen Weg. Wie einst Ex-Bundestrainer Jürgen Klinsmann , der ihn zum Co-Trainer machte. Den ausgetrampelten Pfad anbiedernder Volks-Trainer kennt Löw nicht. Auch wenn nun sicher einige denken, er sei ihn nach dem Algerien-Spiel gegangen. Zugeben würde er das nie.

Seit 2006 ist Löw alleinverantwortlich für das deutsche Heiligtum Nationalelf. Eine Elf, die sich aus Spielern zusammensetzt, die für viele die besten sind, die dieses Land jemals ausgebildet hat. Sie spielt seit 2008 zum großen Teil zusammen, sie ist stets gewachsen, stärker geworden. Die Spieler stehen bei Vereinen auf international "höggschdem" Niveau unter Vertrag, haben aus Fehlern gelernt. Das Team ist auch in der Breite stark, fast alle Positionen sind nahezu gleichwertig und doppelt besetzt.

Dennoch blieb das Team bis gestern eine Konjunktivmannschaft. Eine, die Titel hätte gewinnen müssen, es aber nicht schaffte. 2008 Vize-Europameister, 2010 WM-Dritter, 2012 EM-Halbfinale - immer recht schön gespielt, aber nicht gewonnen. Falsch auf- und eingestellt habe Löw die Mannschaften. 2010 gegen Spanien und auch 2012 gegen Italien opferte er die vorherige Stärke der Teams. Seine Mannschaften sollten sich nach den vermeintlich starken Gegnern richten - und nicht umgekehrt. Vor allem diese falsche Bescheidenheit führte zu den bitteren Niederlagen.

Die erste bei der WM 2010 verzieh das Volk Löw noch: Denn zuvor hatten Löws Spieler fantastisch gespielt, zerlegten Argentinien (4:0) und England (4:1). Die Welt schwärmte vom deutschen Tempo, der technischen Brillanz. Löws Team verwandelte während der WM das Ansehen des deutschen Fußballs. Weg vom Schnurrbart-Treter-Kampfmaschinen-Image hin zur stilbildenden Adler-Elf. Die zweite Niederlage 2012 bei der EM gegen Italien verzieh ihm das Volk nicht. Grund: Er habe sich wieder nach dem Gegner gerichtet.

Und nun diese WM in Brasilien . Spiele im Dschungel, hohe Luftfeuchtigkeit, gnadenlose Sonne. Löw glaubte vor dem Turnier: Mit Tempofußball ist hier keine Ananas zu gewinnen. Daher wollte er weg vom schnellen offensiven Spiel, das er von seinen Mentoren gelehrt hatte. Einer davon war Rolf Fringer. Er war Löws Chef, als der Badener 1995 beim VfB Stuttgart als Co-Trainer anheuerte. Zuvor hatte Löw seine Trainerausbildung in der Schweizer Sportschule Manningen absolviert. In den frühen 1990er Jahren galt sie als Hort der Innovation. Der Leiter damals: Urs Siegenthaler. Genau der, den Jürgen Klinsmann 2005 zum Chefscout der Nationalmannschaft einstellte. Genau der, der wohl vor der WM ähnliches Magengrummeln hatte wie Löw. Es lässt sich leicht vorstellen, wie beide zusammensitzen, die WM-Taktik ausbrüten und feststellen: All das, was sie immer propagierten, ist hier in Brasilien wegen der Hitze kaum möglich.

Als sie auf die Idee kamen, vier Innenverteidiger als Abwehrreihe ins Turnier zu schicken, haben sie wohl zunächst diabolisch ob ihrer vermeintlichen Verrücktheit gelacht, ehe Löw feststellte: "So schlecht isch die Idee gar nit, Urs." Eine vermeintliche Vernunft-Idee. Lieber vier Mal 1:0 gewinnen, als ein 4:4 wie gegen Schweden. Eine Sicherheits-Idee, ein Paradoxon für Löw, das aus der Not geboren schien und dennoch stilbildend ist. Aber nur weil die Deutschen auf die Sicherheit später noch Schnelligkeit draufpackten. Denn die Sache mit der Hitze war dann doch nicht so schlimm.

Und so kam es, dass diese WM ein Turnier der Physis, der Dynamik, der Zweikampfstärke, des Willens, der Schnelligkeit wurde - und keine WM der Schönspieler oder Ballbesitzfußballer. Zwar legte Deutschland gegen Portugal einen typischen Hurra-Fußball-Start hin, gewann mit 4:0. Doch die Portugiesen waren schwach, wehrten sich nicht. Gegen Ghana (2:2) und die USA (1:0) sah das schon anders aus. Zumindest nicht schön. Als denn das Achtelfinal-Gewürge gegen Algerien vorbei war, die Deutschen 2:1 in der Verlängerung mühsam gewannen, waren Löws Entscheidungen in Deutschland in etwa so beliebt wie CIA-Agenten mit deutschem Pass. Das änderte sich nach dem Viertelfinale gegen das starke Frankreich nur bedingt. Lahm spielte von Beginn in der Viererkette hinten rechts, der 1:0-Sieg war zwar souverän, aber nicht sonderlich stylisch. Trotzdem dämmerte Deutschland spätestens da, dass Löw vielleicht doch einen Plan hat.

Und spätestens da merkte Löw, dass nun alles möglich ist. Es folgte das Spiel gegen Brasilien , über das genügend Worte geschrieben sind, die nicht zutreffen. Nur so viel: Löw legte die Aufstellungs-Angst ab, gab sich nach dem 7:1-Sieg aber wieder demütig. Er wiederholte seine Fehler aus der Vergangenheit diesmal also nicht. Doch Jubelposen? Genugtuung? Nein. Hochlobende Worte aus der Heimat für ihn? Liebende Medien, entzückte Clubheim-Theken? Nur vereinzelt.

Und nun? Nach dem WM-Titel? Die Frage, ob Löw seinen Vertrag bis 2016 erfüllt, kann nur er beantworten. Für beide Optionen gibt es Argumente. Sicher ist: Die Distanz zwischen Löw und dem Fußballvolk wird geringer werden. Doch nur wenige Fans werden sich das Löw-Konterfei auf die linke Brust tätowieren. Die meisten bleiben wohl lieber stur. Wie Löw.

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