Der Traum vom Leben in Deutschland

Mailand · Tag für Tag füllt sich der Mailänder Hauptbahnhof mit Flüchtlingen. Einer von ihnen ist Mohammed Kelar. Der Syrer wartet auf Festland-Schlepper, die ihn über die Alpen bringen sollen. Darauf hofft auch der Gambier Abdullah Osman – wohl vergebens.

 Eine Flasche Wasser, ein U-Bahn-Ticket und einen Platz zum Schlafen: Der Syrer Mohammed Kelar wird am Mailänder Bahnhof von Stadt-Mitarbeitern versorgt. Er ist seit März auf der Flucht. Fotos: Max Intrisano

Eine Flasche Wasser, ein U-Bahn-Ticket und einen Platz zum Schlafen: Der Syrer Mohammed Kelar wird am Mailänder Bahnhof von Stadt-Mitarbeitern versorgt. Er ist seit März auf der Flucht. Fotos: Max Intrisano

Man erkennt sie an der Langeweile und am scheuen Blick. Sie sitzen da und rauchen, kaum als Flüchtlinge erkennbar. Einer neben dem anderen, auf einer steinernen Bank im Mailänder Hauptbahnhof. Unter glitzernden Werbeanzeigen, die eine heile Welt versprechen, warten sie darauf, dass es irgendwie weiter geht. Noch haben sie keinen genauen Plan, nur eine einzige Idee, die längst wie Stein in ihr Gehirn gemeißelt ist: Nordeuropa. Dort wollen sie alle hin, am besten nach Deutschland oder Schweden.

Einer von ihnen ist Mohammed Kelar. Der Syrer ist erst vor wenigen Stunden mit dem Zug aus Sizilien gekommen - und trägt alles, was er hat, in einer kleinen Gürteltasche: ein Samsung-Smartphone, seinen Pass und 45 Euro Bargeld. Mohammed ist 21 Jahre alt und hat bis vor ein paar Wochen noch Wirtschaftswissenschaften in Aleppo studiert. Bevor ihn die Schergen von Präsident Baschar Al-Assad verhafteten. "Sie töten alle, die nicht für Assad sind", sagt er. Er entkam ihnen, seit dem 23. März ist er nun auf der Flucht. Über Ägypten nach Libyen, von dort in einem der überfüllten Kähne über das Mittelmeer. "Ich hatte Todesangst." Nach 17 Stunden im Meer griff ihn die italienische Marine auf. Ein paar Tage blieb er im Auffanglager in Syrakus.

Jetzt sitzt er hier, verloren in der glänzenden Bahnhofs-Wartehalle. "Ich habe keinen Plan", sagt Mohammed und schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. Eines Tages wolle er eine Familie haben, heiraten, ein Kind - "ein normales Leben eben". In ein paar Tagen soll es weitergehen. Sein Vater, der noch im zerstörten Aleppo mit der Familie verharrt, hat ihm geraten, nach Deutschland zu gehen. "Dort wirst du wie ein König leben", hat er gesagt. "Stimmt das?"

Wer wie Mohammed in Mailand angekommen ist, der ist schon fast am Ziel. Die Metropole ist derzeit Europas größter Umschlagplatz für die Ware Mensch. Schlepperbanden, oft sind es Ägypter oder Tunesier, organisieren nicht nur die Überfahrt, sondern auch den Transport über Land. Sie wissen, wo sie ihre Kunden bekommen. Nachts, in den Straßen in der Nähe der Notunterkünfte, warten sie auf die Flüchtlinge. Dann wird gefeilscht. 5000 Euro für die ganze Familie im Auto bis Stockholm. 700 Euro kostet ein einfacher Trip auf die andere Seite der Alpen.

Über 43 000 Flüchtlinge sind seit Anfang des Jahres an den Küsten Italiens gelandet, so viele wie im gesamten Jahr 2013. Nur etwa 60 Prozent stellten einen Asylantrag in Italien, der Rest zieht weiter. Hunderttausende warteten nach Angaben des italienischen Geheimdienstes in Libyen auf die Überfahrt. Jetzt, im Sommer, wenn das Meer still ist, sind die Bedingungen dafür besonders günstig. Flüchtlingsorganisationen schätzen, bis zu 100 000 Menschen könnten am Ende des Jahres Europa über das Mittelmeer erreicht haben. Unter ihnen vor allem Syrer, Eritreer und Somalier.

Auch Abdullah Osman aus Gambia kam von Libyen übers Meer, am 29. April. Er sah seinen Freund ertrinken, dreimal drohte das mit 125 Menschen überfüllte Schlauchboot zu kentern. Jetzt sitzt der 17-Jährige seit einem Monat in der Kleinstadt Augusta auf Sizilien fest. Hier legen die Marine-Schiffe alle paar Tage an und spucken ihre im Meer aufgesammelten Menschen-Ladungen aus, manchmal über 1500 Flüchtlinge auf einmal.

"Zona Paradiso" heißt das Viertel, in dem Abdullah mit anderen 150 jungen Männern in einem baufälligen Schulgebäude untergekommen ist. Die Gemeinde hat hier eine Notunterkunft eingerichtet. Vom Paradies, das auch Abdullah sich versprach, ist hier kaum eine Spur. Die Jungen schlafen auf Pritschen, der Boden klebt und ist mit Essensresten übersät. Manche der Jugendlichen sind erst 13 oder 14 Jahre alt, sie bekommen von der Gemeinde zu Essen und retten sich mit einem Fußball über die Zeit. Immer wieder werden sie angefeindet. Wie von der Frau vor dem Supermarkt, die nichts von den "Scheiß Negern" wissen will. Oder dem in der "Pizzeria Paradiso" schimpft: "Wir haben keine Arbeit, und die werden hier vom Staat versorgt." 20 Euro kostet ein Flüchtling die Gemeinde, die 63 Millionen Euro Schulden hat und deren Verwaltung 2012 wegen Verbindungen zur Mafia aufgelöst wurde.

"Kannst du mich nach Freiburg mitnehmen?", fragt deshalb Abdullah. "Ich bin ein sehr guter Fußballer." Ein Freund hat ihm vom SC Freiburg erzählt, er habe sich im Internet über den Verein informiert, den Trainingsplatz und das Dreisamstadion auf Bildern gesehen. Das wäre eine Zukunft. Im Norden Europas. Alle hier wollen dahin, sagt Abdullah.

Doch der Junge aus Gambia gehört zu denen, die sich gleich nach der Landung, halb verdurstet und völlig erschöpft ihre Personalien und Fingerabdrücke von der Polizei haben nehmen lassen. So schreibt es das Gesetz vor, auch wenn die Polizei niemanden zur Identifikation zwingen kann. Abdullah ist deshalb bereits am Ziel angekommen, ob er will oder nicht. Hat er einmal seinen Asylbescheid, was Jahre dauern könnte, darf er sich weiter frei in Italien bewegen. Übertritt er aber eine der Grenzen im Norden und lässt sich dabei erwischen, wird ihn die deutsche, österreichische oder französische Polizei wieder nach Italien abschieben. Nur in dem Land, in dem ein Flüchtling die EU erreicht hat, kann er legal Schutz suchen. So schreibt es die Dublin-III-Verordnung vor.

Der Syrer Mohammed hat sich lieber an die Gesetze gehalten, die unter den Flüchtlingen gelten, die in den Norden weiter ziehen wollen. Mohammed wusste, dass es abgesehen vom Überleben auf seiner Odyssee das Wichtigste war, in Italien keine Spuren zu hinterlassen. "Keine Fingerabdrücke, keinen Namen." Die Polizisten zwangen ihn nicht. Die Auffanglager, die nur wie Gefängnisse aussehen, aber keine sind, kann jeder Flüchtling zu jeder Zeit ohne irgendwelche Konsequenzen verlassen. Mohammed haute ab.

In Mailand braucht er nun Geld, die richtigen Kontakte und noch ein wenig Mut. In Syrien und im Mittelmeer ist er dem Tod begegnet, in Libyen musste er zusehen, wie sogenannte Sicherheitskräfte einen Freund von ihm halb tot schlugen. Er ist misstrauisch und hat Angst, vor den Bahnhof zu gehen, um eine Telefonkarte zu kaufen. "Ist die Polizei hier brutal?", will er wissen. Und in Deutschland? Er hat nichts Gutes gehört. Vielleicht, meint Mohammed, sei er doch besser in Schweden aufgehoben, viele Syrer lebten dort und bekämen leicht Schutz.

Italien zumindest wirkt für viele Flüchtlinge wenig reizvoll. In Süditalien herrscht eine Jugendarbeitslosigkeit von 61 Prozent. Das ganze Land plagt derzeit die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, sie verunsichert die Bevölkerung zusehends. Die Stimmung wirkt feindlich. Abdullah droht ein Leben in Schwarzarbeit, Ausbeutung und Illegalität. Mohammed kann zumindest weiter hoffen. Ein paar Tage nach der Begegnung in Mailand schickt er eine SMS. "Ja mein Freund, wir sind in Schweden angekommen. Mit dem Auto. Allen geht es gut. Bye, Moham med."

 Der Gambier Abdullah Osman sah seinen Freund bei der Flucht übers Mittelmeer ertrinken.

Der Gambier Abdullah Osman sah seinen Freund bei der Flucht übers Mittelmeer ertrinken.

Zum Thema:

HintergrundIm Saarland werden nach Angaben des Innenministeriums seit einigen Monaten verstärkt Flüchtlinge aufgegriffen - oft in Zügen aus Frankreich. Viele von ihnen stammten aus Eritrea und Syrien. Mitte Mai seien 29 Eritreer und ein Syrer illegal aus Paris eingereist. Drei Wochen vorher schnappten Bundespolizisten 20 Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia am Saarbrücker Hauptbahnhof. Ende März griffen sie sechs syrische Familien mit 17 Kindern auf. Bis Ende Mai zählte die Polizei bereits über 700 in Zügen aus Frankreich aufgegriffene Flüchtlinge. Zum Vergleich: 2013 waren es insgesamt 800. red

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort