Der steinige Weg der Odenwaldschule zurück zur Normalität

Heppenheim. Die renommierte Odenwaldschule hat nur noch einen Rumpfvorstand - aber jede Menge zu tun. Drei Wochen nach Bekanntwerden zahlreicher Fälle von sexuellem Missbrauch zog das reformpädagogische Elite-Internat am Samstag bei einer Krisensitzung die Reißleine

Heppenheim. Die renommierte Odenwaldschule hat nur noch einen Rumpfvorstand - aber jede Menge zu tun. Drei Wochen nach Bekanntwerden zahlreicher Fälle von sexuellem Missbrauch zog das reformpädagogische Elite-Internat am Samstag bei einer Krisensitzung die Reißleine. Fünf der sieben Vorstandsmitglieder legten bei einer außerordentlichen Sitzung des Trägervereins in Heppenheim in Hessen ihre Ämter nieder. "Wir haben verstanden, dass die Schule Ruhe braucht", sagte anschließend die ausgeschiedene Vorsitzende des Vorstandes, Sabine Richter-Ellermann. Trägervereins-Sprecher Philipp Sturz sprach von einem "hochemotionalen Treffen". An dem Internat sollen vor Jahrzehnten zahlreiche Schüler von Lehrern missbraucht worden sein. Nun soll es Veränderungen geben. Die Rücktritte begründete Richter-Ellermann mit "großem öffentlichen Druck". Für einen Moment schien die Öffentlichkeit das eigentliche Motiv gewesen zu sein - und nicht das Ausmaß und die persönlichen Folgen der Übergriffe. Dann doch eine Art Eingeständnis: "Wir haben vielleicht mitgeschwiegen, weil wir so etwas nicht für möglich gehalten haben." Voraussichtlich am 29. Mai soll ein neuer Vorstand gewählt werden. "Wir brauchen einen klassischen Neuanfang", sagte Sturz. Ein schwieriger Neustart im Jubiläumsjahr: Nächsten Monat wird die Schule 100 Jahre alt, im Sommer ist eine Festwoche geplant. Die Geschäfte führen bis zur Neuwahl Schulleiterin Margarita Kaufmann und Geschäftsführer Meto Salijevic. Sie gehören durch ihr Amt zwingend dem Vorstand an. Unterstützt werden sie von Zahnarzt Sturz (48) und dem früheren Landrat des Kreises Bergstraße, Norbert Hofmann (67), beide Sprecher des Trägervereins. "Wir arbeiten wie ein Eichhörnchen. Wir knacken jeden Tag eine harte Nuss", beschreibt Sturz die Lage. Schulleiterin Margarita Kaufmann hat sich von den rund 30 Mitgliedern des Trägervereins grünes Licht geben lassen, um die Privatschule umzukrempeln. Dabei könnten auch heilige Kühe geschlachtet werden. Denn auch das "Familien"-System, wonach Schüler und Lehrer in einem engen Verband zusammenwohnen, soll auf den Prüfstand. "Ich bin dankbar, dass der Vorstand zurückgetreten ist", sagt die 54-Jährige. Sie hatte für ihre Linie der rückhaltlosen Aufklärung aus dem Gremium nicht nur Unterstützung erfahren. Aber sie will daran festhalten. Einen Neustart wünschen sich auch zahlreiche ehemalige Schüler. "90 Prozent von uns haben die Odenwaldschule als überaus positiv erlebt", sagt Marc Tügel als Sprecher der ehemaligen Odenwald-Schüler. So sieht es auch Sturz: "Ich habe hier immer gerne gelernt." Zu den sexuellen Übergriffen sagt der 61 Jahre alte Tügel: "Bei allem Respekt vor den Missbrauchsopfern: Das ist nicht die Odenwaldschule."

HintergrundAltbundespräsident Richard von Weizsäcker hat sein Schweigen zu den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule in Hessen gebrochen. Sein 2008 verstorbener Sohn Andreas hatte Ende der 60er-Jahre in der Wohngruppe des Haupttäters und Schulleiters Gerold Becker gelebt. Weder er noch seine Frau hätten von den Missbrauchsfällen "Kenntnisse gehabt, auch nicht durch Andreas", sagte Weizsäcker dem Nachrichtenmagazin "Spiegel". Der frühere Bundespräsident wies damit auch Spekulationen in den Medien zurück, er könnte den Missbrauch gedeckt haben. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort