Der Staat hat alles im Blick

Als Josef K. eines Morgens aufwachte, wurde er verhaftet.

Die zwei Männer in Zivil nannten ihm keine Gründe, sie hätten nur ihren Auftrag zu erfüllen. Die Geschichte staatlicher Willkür hat Franz Kafka in seinem Klassiker "Der Prozess" eindringlich beschrieben, und 100 Jahre später erhält sie eine beklemmende Realität, nicht nur in totalitären Systemen. Denn auch in scheinbar gefestigten Demokratien werden die Freiheits- und Grundrechte der Bürger immer weiter ausgehöhlt. Der Staat kann sich seine "Feinde" künftig selber aussuchen - er weiß ja alles über sie.

Die Diskussion über die globalen Überwachungsprojekte der Amerikaner ("Prism") und Engländer ("Tempora") ist noch am Anfang. Derzeit müssen die gutgläubigen Menschen rund um den Erdball erst einmal verkraften, dass sie von allen möglichen Geheimdiensten in umfassender Manier ausspioniert werden. Wer wo seit wann und mit wem wohnt, ist bereits bekannt, denn Einwohnermelde-Dateien, Steuer- und Bankdaten sind für Schlapphüte kein wirkliches Problem. Leicht auch die Informationsbeschaffung über E-Mails, Telefon-Kontakte und das Surfverhalten der User im Netz: Seit die Technologie dies zulässt, wird der Internet-Verkehr großflächig abgescannt. Wer ruft welche Seiten auf, wer kommuniziert mit wem, welche Inhalte werden transportiert? In digitaler Vernetzung mit Facebook, Twitter, "Street View" und hochauflösender Satellitentechnik lässt sich so eine Zielperson innerhalb kürzester Zeit "gläsern" darstellen. "Big Brother", das ahnte schon George Orwell, ist kein Phantom mehr.

Vorrangiges Ziel der geheimdienstlichen Aktivitäten ist, nach offizieller Aussage von Präsidenten und Premierministern, "die Bewahrung der inneren (nationalen) Sicherheit". Nicht der unbescholtene Bürger stehe im Fokus der Schnüffler, sagte auch Barack Obama letzte Woche in Berlin, sondern der terroristische Finsterling, dessen Mordpläne verhindert werden müssten. In der Theorie klingt das gut, doch die Praxis sieht ein wenig anders aus: Top-Terroristen haben sich längst auf die neue Situation eingestellt - und agieren wieder analog: Sie meiden verräterische Mailspuren, telefonieren mit verschleierten Inhalten, reisen unter falschem Namen und überweisen Geldbeträge per Kurier. Genau jene Gruppe also, auf die es die staatlichen Schnüffelmonster im Netz abgesehen haben, entzieht sich dem Überwachungssystem nach Kräften. Das heißt: Die Billionen an Daten, die etwa die NSA in Utah oder das GCHQ in Cheltenham täglich sammeln und speichern, stammen zu nahezu 100 Prozent von Nicht-Terroristen. Warum wird die aberwitzige Menge an Bits und Bytes dann auf den gigantischen Servern der NSA gespeichert? Und vor allem: Was geschieht damit, wer nutzt die Daten wie und warum? Die Mutter aller Fragen: Wer kontrolliert die monströsen Datenkraken, wenn schon das zuständige FISC-Gericht (Foreign Intelligence Surveillance Court) in den USA so geheim tagt, dass nicht mal bekannt wird, über was überhaupt verhandelt wird?

Dass die Schwüre und Beteuerungen irgendwelcher Präsidenten nicht viel wert sind, zeigt diese Entwicklung: 1978 wurde vom US-Kongress der Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) verabschiedet, der offiziell die Spionagebefugnisse der Dienste regelt. Es war sinnigerweise die Antwort auf Richard Nixons Lauschangriff im Watergate-Skandal. FISA wurde nach dem Trauma vom 11. September 2001 unter George W. Bush mehrfach verschärft, zuletzt im Rahmen des "Patriot Act" und des "Protect America Act" im Jahr 2007. Damals wurden alle Voraussetzungen geschaffen, mit denen der Geheimdienst NSA heute quasi barrierefrei weltweit operieren kann. Auch scheinbar kritische US-Demokraten stimmten zu, wobei der unabhängige Senator Joe Lieberman eine ebenso typische wie verräterische Begründung abgab: "We're at war. This is not the time to strive for legislative perfection" ("Wir sind im Krieg. Jetzt ist nicht die Zeit, nach gesetzlicher Perfektion zu streben").

Allerdings haben die Verfechter der Schnüffel-Praxis bis heute nicht erklären können, welche Logik hinter ihrem Geheimhaltungswahn steckt. Mit welcher Begründung soll der Bürger nicht wissen, dass der von ihm finanzierte Staat ihn in seinem eigenen Interesse überwacht? Nur lauwarme Antworten gibt es auch auf die Frage, welche Instanz eigentlich die Überwacher überwacht, um zu verhindern, dass neben der "normalen" Observation weitere persönliche Daten - Mobilitätsmuster per "Connecting Drive", GPS-Ortung, Kaufverhalten - mit den abgesaugten Kommunikations- und "Stammdaten" verknüpft werden? Schon jetzt ist es selbst für Supermärkte ein Kinderspiel, aus Kundendaten und Kreditkarten-Abrechnungen mit einem Algorithmus zu ermitteln, welche Kundin schwanger ist oder auf Öko steht. Wie einfach wird es dann für Geheimdienste sein, das komplette Profil einer ins Visier genommenen Zielperson zu erstellen?

Es sind übrigens nicht nur "linke" Skeptiker, die den Spähangriff des Staates auf seine (und andere) Bürger kritisieren. Der britische "Guardian" zitierte am Wochenende einen anonymen "Schattenmann des MI5" (Geheimagent), der vor einer Gefahr des Missbrauchs der Überwachungssysteme warnt, wenn zum Beispiel bei einem politischen Wechsel "die falsche Partei zum Zuge kommt". In Deutschland wird noch die Frage zu beantworten sein, in welchem Umfang die hiesigen Geheimdienste mit Amerikanern und Briten kooperieren - und wie viele Daten sie selbst sammeln . . .

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