Der Schock in Köln sitzt immer noch tief

Köln. Es ist kurz nach 14 Uhr, als das schier Unfassbare geschieht. Gerade noch herrscht normales Treiben rund um das Kölner Stadtarchiv - und plötzlich versinkt das ganze Gebäude im Erdboden. Ungläubig starren Menschen auf das Trümmerfeld, die Fernsehbilder erinnern an einen Bombenangriff. Das Archiv mit tausenden wertvollen Dokumenten ist einfach verschwunden

Köln. Es ist kurz nach 14 Uhr, als das schier Unfassbare geschieht. Gerade noch herrscht normales Treiben rund um das Kölner Stadtarchiv - und plötzlich versinkt das ganze Gebäude im Erdboden. Ungläubig starren Menschen auf das Trümmerfeld, die Fernsehbilder erinnern an einen Bombenangriff. Das Archiv mit tausenden wertvollen Dokumenten ist einfach verschwunden. Noch schlimmer: Die Trümmer haben zwei junge Männer - einen 17-jährigen Lehrling und einen 24-jährigen Student - aus einem ebenfalls eingestürzten Nachbarhaus begraben. Ein Jahr nach dem Unglück vom 3. März 2009 sitzt der Schock in der Stadt noch immer tief - und angesichts der Skandale um den Kölner U-Bahn-Bau wächst die Empörung. Warum das Archiv einstürzte, ist bis heute nicht geklärt. Als sicher gilt aber, dass es einen Zusammenhang mit dem Bau der neuen U-Bahn gibt. Unmittelbar vor dem Archivgebäude befand sich eine tiefe Baustellengrube. Bis die genaue Ursache feststeht, wird es nach Angaben der Staatsanwaltschaft noch Monate dauern. Denn bislang konnten die Gutachter noch nicht einmal die Schadensstelle aus der Nähe betrachten - sie liegt tief in dem unter Wasser stehenden Krater. Ehe man dorthin kommt, muss zunächst eine spezielle Baukonstruktion errichtet werden, die der Grube Halt verleiht. Mehrere Dutzend Bewohner angrenzender Häuser verloren durch das Unglück ihre Wohnungen und teilweise ihr gesamtes Hab und Gut. Für sie rollte eine Welle der Hilfsbereitschaft an: Von zahlreichen Privatleuten und Unternehmen kamen Geld- und Sachspenden, die Stadt half bei der Wohnungssuche, die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) zahlten ein Überbrückungsgeld. Der Großteil der wertvollen Archivgüter, die in dem trichterförmigen Krater lagen, ist inzwischen geborgen und vorübergehend auf verschiedene Archive in ganz Deutschland verteilt. Zwar sind einige Dokumente nahezu unbeschädigt, doch viele sind in einem schlimmen Zustand und müssen aufwändig getrocknet und zusammengeflickt werden. Bis alles restauriert ist, wird es nach Angaben der Archivleitung etwa 30 Jahre dauern. Das Historische Archiv - das "Gedächtnis der Stadt Köln" - galt als eines der bedeutendsten kommunalen Archive in Europa. Dort lagerten unter anderem 65 000 Urkunden ab dem Jahr 922, eine halbe Million Fotos und zahlreiche Nachlässe, unter anderem von Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll. Wer letztlich Schuld trägt an dem Unglück, ist noch völlig offen. Die juristische Aufarbeitung könnte mehrere Jahre dauern. Denn es geht um einen Schaden, der Schätzungen zufolge in Milliardenhöhe liegt. Schon kurz nach dem Einsturz hagelte es Kritik an der Informationspolitik und dem Krisenmanagement der Stadt, der KVB und der ausführenden Baufirmen. Persönliche Konsequenzen zog der damalige Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU): Entgegen ursprünglicher Pläne trat er bei der Kommunalwahl im August 2009 nicht wieder an. Ganz ist die Kritik über all die Monate nie verstummt - und seit einigen Wochen bekommt sie fast täglich neue Nahrung. Denn scheibchenweise wurde bekannt, dass sich auch an anderen Baustellen entlang der neuen U-Bahn-Strecke Unglaubliches abgespielt hat: Bauprotokolle wurden gefälscht; es gibt Hinweise, dass zu wenig Beton eingefüllt wurde und Befestigungsanker fehlen; Eisenbügel, die zur Stabilisierung eingebaut werden müssen, sollen in großem Stil abgezweigt und an Schrotthändler verkauft worden sein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft waren fehlende Eisenbügel nicht die Ursache für den Einsturz des Stadtarchivs. Trotzdem sind bei vielen Kölnern Verunsicherung und Ärger groß: Warum fällt der Pfusch erst jetzt auf? Sind die U-Bahn-Baustellen wirklich sicher? Hat man diese etwa nicht unmittelbar nach dem Archiv-Unglück noch einmal gründlich überprüft? Denn spätestens seit dem Einsturz müsste doch jedem klar sein, dass auf die kölsche Lebensweisheit "Et hätt noch immer jot jejange" kein Verlass ist.

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