Der schmale Grat zwischen Flirt und Belästigung

Im Klassenraum mit pubertierenden Jungs, die uns Mädchen oft von hinten den BH-Verschluss öffnen. Lehrer: Stellt euch net so an." Julia beschreibt ihre Erfahrungen im Kurznachrichtendienst Twitter. Seit Beginn der Debatte um angeblich sexistische Äußerungen des FDP-Politikers Rainer Brüderle gingen bei Twitter Zehntausende sogenannte Tweets unter dem Schlagwort (Hashtag) #Aufschrei ein

Im Klassenraum mit pubertierenden Jungs, die uns Mädchen oft von hinten den BH-Verschluss öffnen. Lehrer: Stellt euch net so an." Julia beschreibt ihre Erfahrungen im Kurznachrichtendienst Twitter. Seit Beginn der Debatte um angeblich sexistische Äußerungen des FDP-Politikers Rainer Brüderle gingen bei Twitter Zehntausende sogenannte Tweets unter dem Schlagwort (Hashtag) #Aufschrei ein. Am Wochenende flossen pro Minute bis zu zehn Tweets zu dem Thema in das soziale Netzwerk ein. An der Diskussion nehmen vor allem Frauen teil. Viele berichten von Beleidigungen und Übergriffen. "Der alte, nette Herr im Verein, der mir beim Kuchenverkauf auf den Mund starrt und sagt: Deine Lippen machen mich verrückt.", tweetet eine.Auch Prominente greifen in die Debatte ein, etwa die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach. "Die Welt wäre ohne flirtwillige Männer ziemlich öde. Eine Journalistin die 1 Jahr braucht um sich zu empören ist scheinheilig", twittert die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen. Die Reaktionen folgen prompt: "Ein Flirt ist es aber auch nur solange, wie beide Seiten Lust drauf haben. Das war kein Flirt. Das war übergriffig", erwidert Sabine.

Und die Männer? Ihre Reaktionen schwanken zwischen Sachlichkeit, Trotz und Provokation. "Ich werde durch #Aufschrei stark für mein eigenes Verhalten und das in meiner Umgebung sensibilisiert. Gut so!", schreibt etwa Martin. Dagegen meint ein Twitterer mit dem Namen Weltherrscher: "die frauen haben mit ihrer #aufschrei aktion vollkommen recht. wir männer sind schweine, nur die frauen sind heilige. wir schämen uns!!!" Auf solche und heftigere Nachrichten reagiert Christoph mit einem Tweet, der von verschiedenen Männern wiederholt wird: "Ich finde #aufschrei immer wichtiger, je Mehrheit Reaktionen von Männern ich sehe. Sorry, Jungs."

Längst geht es nicht mehr nur um frivole Sprüche von Politikern gegenüber jungen Frauen. Es geht um die alltägliche Anzüglichkeit, mit der Männer und Frauen zu kämpfen haben. Klar wird dabei schnell, dass jeder für Sexismus seine ganz eigene Definition hat. Die Grenze zwischen einem netten Kompliment und sexueller Belästigung ist schmal und nicht klar definiert. "Sobald ein Gespräch als unangenehm und als verbaler sexueller Angriff empfunden wird, ist eine Grenze überschritten", sagt die Genderforscherin Katrin Späte vom Institut für Soziologie in Münster. "Diese Grenze muss jeder für sich selbst festlegen." Dass diese Diskussion nun öffentlich geführt werde, sei wichtig, auch, um sensibel für Übergriffe zu werden.

"Es ist nicht in Ordnung", sagt Späte weiter, "wenn Frauen so dargestellt werden, als würden sie Übergriffe provozieren und damit das Täter-Opfer-Verhältnis umgedreht wird." Nichts, auch nicht die äußere Erscheinung der Frau, könne rechtfertigen, dass jemand die persönlichen Grenzen eines anderen überschreite. Das geschieht schnell, denn Sexismus findet sich in vielen alltäglichen Situationen: Da ist die Frage nach den Kinderplänen beim Bewerbungsgespräch oder die als "Tittenbonus" abgewertete Frauenquote.

Ein Blick nach Berlin zeigt ähnliches: Viele tausend Frauen und Männer arbeiten dort für Medien und in der Politik. Da der polit-mediale Arbeitstag für die meisten nicht um 17 Uhr endet, wird es auch mal spät. Dabei werden zwar nicht beständig professionelle Grenzen überschritten, aber es gibt Ausnahmen: Korrespondentinnen erzählen von unverschämten Blicken mancher Politiker oder vom anzüglichen Lob für die gut geschnittene Kleidung. Wer zurückweist, muss mit Informationsentzug rechnen.

Und da sind die strategischen Machtspiele vieler Männer. Diese sollen nach Meinung der Geschlechterforscherin Anne Schlüter vom Netzwerk für Frauen- und Geschlechterforschung in Nordrhein-Westfalen die Frau runterziehen und mundtot machen. Die Professorin sagt: "Diese Männer denken, sie haben die Macht dazu. Aber eigentlich sind es Männer, die kein Selbstbewusstsein haben und es nicht schaffen, Frauen auf gleicher Ebene zu akzeptieren." In diese Kategorie passen natürlich nicht alle: Vielen Männern sei ihr anzügliches und teils beleidigendes Verhalten nicht bewusst, sagt die Gleichstellungsbeauftragte der Deutschen Rentenversicherung, Theodoline Granat-Flügge. "In den meisten Fällen, die wir hier mitbekommen, steckt dahinter keine böse Absicht, sondern mangelndes Bewusstsein." "Diese Männer denken, sie haben die Macht dazu. Aber eigentlich sind es Männer, die kein Selbstbewusstsein haben."

Geschlechterforscherin

Anne Schlüter über Sexismus

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