Der letzte Kuss

Ach, was waren sie stolz auf ihren Staat. 40 Jahre "Politik zum Wohle des Volkes" wollten sie feiern, 40 Jahre Deutsche Demokratische Republik , in denen "Alles mit dem Volk, alles für das Volk, alles durch das Volk" geschehen sei.

 Störenfriede wurden bei der Feier zum 40. Jahrestag der DDR nicht geduldet: Die Stasi ging hart gegen Demonstranten vor. Foto: SZ Photo

Störenfriede wurden bei der Feier zum 40. Jahrestag der DDR nicht geduldet: Die Stasi ging hart gegen Demonstranten vor. Foto: SZ Photo

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Doch der Jubeltag der DDR am 7. Oktober 1989 geriet zum Desaster: Dem Arbeiter- und Bauern-Paradies liefen die Arbeiter und Bauern weg, im ganzen Land rumorte es. Statt Festtagslaune herrschte in Ostberlin Weltuntergangsstimmung.

Wie so viele Tage im historischen Herbst vor 25 Jahren ging auch der "Tag der Republik " am 7. Oktober in die Geschichte ein. Monatelang hatten sich die braven Kader der Einheitspartei auf dieses Datum vorbereitet, Gäste aus aller Welt waren eingeladen, aus Moskau natürlich der Staats- und Parteichef als Stargast - und dann das: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", unkte ein recht aufgeräumter Michail Gorbatschow mitten in Ostberlin zu Bürgern und Journalisten, die ihren Ohren nicht trauen wollten. Denn dieser Wink mit dem Zaunpfahl galt nicht den Bürgern der DDR , deren Unmut über Freiheitsberaubung und staatliche Gängelei am Überkochen war; sondern dem greisen Führungskader im Politbüro. Dessen Chef Erich Honecker hatte kurz zuvor noch weltweit für Heiterkeit gesorgt, als er trotzig-naiv meinte, "den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs noch Esel auf". Nun war Honecker plötzlich selbst Ochs und Esel in einer Person: Seine Landsleute liefen in Scharen zum Klassenfeind über, der große Bruder aus Moskau zeigte ihm die kalte Schulter, und zu allem Überfluss hatte er auch noch ausgerechnet jetzt gesundheitliche Probleme. So wurde der Saarländer Honecker zum fahlen Sinnbild eines sozialistischen Experiments, das grandios am scheitern war.

Die scheinbaren "Feiertage" (die Festlichkeiten begannen schon am 6. Oktober) wurden ein ebenso spannendes wie fantastisches Kapitel deutscher Geschichte. Honecker musste am ersten Tag im Palast der Republik 4000 geladene Gäste und 70 ausländische Delegationen empfangen. Er stand extrem unter Stress, denn der Flüchtlingsstrom wollte einfach nicht verebben. Vor ein paar Tagen erst hatte er zähneknirschend der Ausreise von 10 000 Botschaftsflüchtlingen aus Prag und Budapest zustimmen müssen; nun tat er so, als sei alles in bester Ordnung. Die DDR , krächzte Honecker mit brüchiger Stimme in seiner Festansprache, "gehört zu den zehn leistungsfähigsten Industrienationen der Welt". Und zu den "zwei Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard". Auf die brisante Lage der DDR ging er mit keinem Wort ein, nur ganz zum Schluss ließ sich ein kurzer Satz als Andeutung verstehen: "Neue Anforderungen verlangen neue Lösungen, und wir werden auf jede Frage eine Antwort finden".

Wie die Antworten aussahen, konnte man tags darauf beobachten. Morgens schien noch alles friedlich, die übliche Jubel-Parade auf der Karl-Marx-Allee, vorbei an alten winkenden Männern in grauen Mänteln. Nachmittags gesteuerte Volksfeststimmung am Alex, doch abends "rotteten sich Randalierer zusammen", wie die DDR-Nachrichtenagentur ADN mit der ihr eigenen Sicht der Dinge schrieb. Als viele der etwa 20 000 Menschen "Gorbi hilf!" und "staatsfeindliche Parolen" (ADN) riefen, reagierten Stasi und Polizei in gewohnter Manier: mit Knüppeln. Doch die Leute wehrten sich, sie wollten sich nicht mehr alles gefallen lassen. Als die "Rädelsführer" verhaftet werden sollten, kam es zu regelrechten Straßenschlachten. Die Saarbrücker Zeitung schrieb tags darauf: "40 Jahre DDR : Brutales Vorgehen gegen friedliche Demonstranten". Auf vier Seiten konnten die SZ-Leser das dramatische Geschehen verfolgen, der Kommentar unseres Ostberliner Korrespondenten Werner Kern brachte es auf den Punkt: "Ein beklemmendes Fest".

Zur gleichen Zeit, als Vopos Bürger niederknüppelten, sprach Gorbatschow bei einem Empfang im Schloss Niederschönhausen Klartext. "Wir sind in einer Etappe sehr wichtiger Beschlüsse", sagte er mit ernster Miene zu den Mitgliedern des Zentralkomitees. Nach einer Kunstpause fügte er hinzu: "Es müssen weitreichende Beschlüsse sein". Und dann wiederholte er sein Credo vom Vortag: "Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben. Und zwar sofort". Spätestens da hätten die Mitglieder des Politbüros wissen müssen, was die Stunde geschlagen hat. Doch in ihrer Schockstarre taten sie noch immer so, als sei nichts geschehen. Die Realitätsverweigerung hatte ihren Höhepunkt erreicht.

Der 40. Jahrestag wurde zum letzten Jahrestag der DDR . Die "Jubelfeiern" und ihre Begleitumstände hatten aller Welt vor Augen geführt, auf welchem Treibsand der Pankow-Sozialismus gebaut war. Als Gorbatschow zurück nach Moskau flog, verabschiedete er sich zwar nach alter Sowjet-Manier mit einem letzten Kuss von Honecker. Doch schon nach der Landung in Moskau sagte er auf dem Flughafen, er habe den Eindruck, dass "die Jugend der DDR " die sowjetische Perestroika mit großer Sympathie verfolge. Da hat "Gorbi" gewiss leicht untertrieben, denn auch die Alten hatten die Schnauze voll. Das sozialistische Bruderland war in Auflösung begriffen. Vier Wochen später fiel die Mauer.

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