Der Krieg begann mit einer Lüge

Die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs fielen am frühen Morgen. In der Danziger Bucht ankerte das deutsche Marineschiff „Schleswig Holstein“, kurz nach Tagesanbruch am 1. September 1939 nahm es den polnischen Militärposten auf der Halbinsel Westerplatte unter Beschuss.

Etwa zur selben Zeit brachten deutsche Bomber hunderten schlafenden Einwohnern der Kleinstadt Wielun den Tod - die ersten Opfer eines Krieges, im dem bis zum Ende weltweit rund 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren.

Der Überfall Nazi-Deutschlands auf das Nachbarland wurde von der deutschen Propaganda als Reaktion auf einen polnischen Angriff umgedeutet. "Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen", sagte Adolf Hitler in seiner Rundfunkansprache. Auch das war eine Lüge: Geschossen wurde bereits eine Stunde zuvor. Und der angebliche Angriff auf den Rundfunksender der Grenzstadt Gleiwitz wurde von SS-Leuten in polnischen Uniformen verübt.

Für Polen war der deutsche Überfall der Beginn einer doppelten Katastrophe. Am 17. September marschierte auch die Rote Armee ein. Deutschland und die Sowjetunion hatten im geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts ihre Interessengebiete abgesteckt. Polen wurde ein weiteres Mal unter seinen Nachbarn aufgeteilt. Zwar erklärten England und Frankreich Deutschland den Krieg, doch Polen war in seinem Kampf weitgehend auf sich gestellt.

Der Besatzungsalltag der Polen , die nach der nationalsozialistischen Rassenideologie als Untermenschen galten, war von Terror geprägt. Vor allem in den Westgebieten wurden Vertreter der Elite deportiert oder ermordet. Von Anfang an gab es Morde an Juden. Drei der sechs Millionen Opfer des Holocausts waren polnische Juden. Zudem kamen im Zweiten Weltkrieg rund drei Millionen nichtjüdische Polen ums Leben - Widerstandskämpfer, Opfer von Razzien und Massenerschießungen, Zivilisten. Zehntausende wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert.

Nach Polen wandte sich die deutsche Wehrmacht anderen Ländern zu, Skandinavien, den Benelux-Staaten und Frankreich . Bald tobte der Krieg in ganz Europa, in Afrika und Asien, unter Beteiligung der USA ebenso wie Australiens. Am Ende war Deutschland ein Trümmerfeld und die Welt zweigeteilt zwischen dem Westen und der Sowjetunion samt Vasallenstaaten.

Die Westerplatte, wo alles begann, ist heute ein beliebtes Ausflugsziel. Sonnenanbeter lassen sich am kleinen Sandstrand der Halbinsel nieder. Auf der Uferpromenade flanieren Spaziergänger vorbei an Kieferwäldchen. Vor 75 Jahren war hier eine Trümmerwüste, der Wald abgebrannt nach Dauerbeschuss und Bombardements. Die Archivbilder von 1939 zeigen verkohlte Baum stümpfe und eine Kraterlandschaft. "Man ging davon aus, dass die 200 Soldaten auf der Westerplatte die Anlage zwölf Stunden lang halten könnten", erzählt Marzena, die auf einem Ausflugsschiff die Passagiere über die Geschichte der Westerplatte informiert. "Aber sie hielten sieben Tage lang aus." Heute posieren Touristen und Schulklassen für Gruppenfotos vor den Ruinen, zwischen denen Gras und Bäume wachsen. Auf Gedenktafeln sind die Namen der Kämpfer eingetragen.

Trotz der Materialschlacht waren die Verluste der Polen auf der Westerplatte gering: Nur 15 Soldaten starben. Ihre Gräber liegen heute im Schatten von Bäumen. Kerzen brennen, Besucher haben Fähnchen in den polnischen Nationalfarben weiß und rot an einige Gräber gesteckt. Gleich nebenan wird mit Militaria Geld verdient: Gipsminiaturen des heroischen Denkmals, Gasmasken, Helme, Uniformteile.

Wenn am 1. September wie jedes Jahr Regierungsvertreter um 4.45 Uhr, dem Zeitpunkt der ersten Schüsse , Kränze niederlegen, wenn Pfadfinder und junge Soldaten mit Fackeln in der Morgendämmerung Mahnwache halten, ist keiner der Westerplatte-Verteidiger mehr dabei. Inzwischen sind auch die letzten Veteranen tot. Noch vor wenigen Jahren waren bei den Gedenkfeiern auch Deutsche dabei, die an Bord der "Schleswig Holstein" die Westerplatte beschossen hatten. Organisiert hatte die Begegnungen der Gründer der Organisation "Mission Versöhnung", Tadeusz Kreps. "Sie haben sich nie gestritten", erinnerte er sich zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns. "Die Beziehungen waren vielleicht nicht freundschaftlich, aber auf jeden Fall kollegial." Von deutschen wie polnischen Veteranen habe er gehört: "Nun kann ich leichter sterben, denn wir haben uns ausgesöhnt."

Doch der Weg zu Versöhnung und Normalität war lang und schwer. Als Deutschland am 8. Mai 1945 kapitulierte und der Krieg in Europa zu Ende war, gab es kaum eine polnische Familie, die nicht Schreckliches erlebt, Angehörige verloren hatte. Doch die Polen , obgleich sie vom ersten Tag an gegen die Deutschen gekämpft hatten, gehörten zu den Verlierern: Ihr Land wurde gegen den erklärten Willen der Londoner Exilregierung Einflussgebiet der Sowjetunion , die Ostgebiete wurden ihr ganz zugeschlagen.

Polen aus Vilnius und Lviv (Lemberg) mussten ihre Heimat verlassen, wurden umgesiedelt in die deutschen Gebiete, mit denen ihr Land für seine Verluste im Osten entschädigt worden war: nach Breslau, Danzig, Stettin. Das Vertriebenenschicksal wurde zu einer gemeinsamen Erfahrung von Deutschen und Polen - doch jahrzehntelang blieb die Angst vor der Rückkehr der Deutschen. Erst die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze ließ diese Ängste schwinden. Heute lassen sich mit der Angst vor den Deutschen keine Wahlen mehr gewinnen. Das musste der Nationalkonservative Jaroslaw Kaczynski 2011 feststellen, als er kurz vor den Parlamentswahlen in einem Buch Bundeskanzlerin Angela Merkel "Großmachtstreben" vorwarf. Inzwischen regiert Donald Tusk als erster polnischer Regierungschef seit 1989 eine zweite Amtszeit und hat ein als freundschaftlich geltendes Verhältnis zur deutschen Kanzlerin. Die Polen lernten zur allgemeinen Überraschung, dass Merkel einen polnischen Großvater hat.

Dennoch sind die deutsch-polnischen Beziehungen für den Historiker Krzysztof Ruchniewicz "weiter einer Herausforderung", wie er sagt. "Wir besuchen uns, wir tauschen uns lächelnd aus, aber wir diskutieren nicht miteinander, wir suchen in der Debatte keine weiteren Herausforderungen und gemeinsamen Ziele für die Zukunft." Auf Harmoniebekundungen sollten sich die Nachbarn nicht beschränken: "Ich glaube, gute deutsch-polnische Beziehungen sind eine Garantie der Stabilität in unserem Teil Europas, also ist ihre Vertiefung eine Notwendigkeit."
Zum Thema:

1. September 1939: Das Deutsche Reich greift Polen an. Zwei Tage später erklären Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Am 17. September marschiert auch die Sowjetarmee in Polen ein. Der Zweite Weltkrieg hat begonnen.10. Mai 1940: Die deutsche Westoffensive beginnt mit dem Einmarsch in die Niederlande, Belgien und Luxemburg und einen Monat später in Frankreich .10. Juni 1940: Das faschistische Italien erklärt Frankreich und Großbritannien den Krieg.22. Juni 1941: Die deutsche Wehrmacht greift die Sowjetunion an.7. Dezember 1941: Japan bombardiert den US-Stützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii. Der Krieg zwischen beiden Ländern beginnt. Vier Tage später erklären Deutschland und Italien den USA den Krieg.Sommer 1943: Nachdem im Februar/März die eingeschlossenen Reste der 6. Armee in Stalingrad kapituliert haben und im Juli auch der deutsche Vorstoßversuch bei Kursk misslingt, dreht sich im Osten das Blatt endgültig.6. Juni 1944: Die Alliierten landen in der Normandie.11. September 1944: US-Truppen erreichen bei Trier die deutsche Grenze. Einen Monat später (16. Oktober) rückt die Sowjetarmee in Ostpreußen ein.7. Mai 1945: Im französischen Reims unterzeichnet Generaloberst Alfred Jodl die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht . Sie tritt am 8. Mai in Kraft. Endgültig endet der Krieg mit der Kapitulation Japans am 2. September. dpa

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