Der Horror vor den Toren Europas

Rom/Brüssel · Terror, Kriege und die Hoffnung auf ein besseres Leben treiben jedes Jahr Hunderttausende Flüchtlinge in marode Boote – 2014 so viele wie nie zuvor. Tausende finden auf dem Weg nach Europa den Tod. Die EU sucht nach neuen Lösungen.

Sie ertrinken im offenen Meer, ersticken eingepfercht in enge Boote oder sterben völlig entkräftet nach Tagen auf hoher See: 3419 Menschen sind in diesem Jahr schon bei ihrer gefährlichen Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen. So viele Menschen wie nie zuvor flohen auf dem Seeweg vor Krieg und Verfolgung, wie die Flüchtlingsorganisation der UN (UNHCR) gestern mitteilte. Europa und vor allem Mittelmeerländer wie Italien stehen dem Flüchtlingsstrom oft überfordert gegenüber.

2014 nahmen nach Angaben des UNHCR rund 207 000 Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer auf sich. Damit wollen sie vor allem den zahlreichen Krisen und Konflikten, etwa in Syrien, im Irak und in Libyen, entkommen. "Wenn gesamte Familien ihr Leben auf See riskieren, haben sie schon alles andere verloren und sehen keine andere Möglichkeit, um Sicherheit zu finden", sagt UN-Flüchtlingskommissar António Guterres . Diplomaten sprechen mittlerweile offen von der größten Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg.

Italien ist das Land, in dem die meisten Menschen ankommen, die auf ein neues Leben in Europa hoffen. Aus der Sicht Roms sind der Ansturm und dessen Bewältigung dennoch in erster Linie europäische Probleme. "Diejenigen, die hierherkommen, wollen in der großen Mehrzahl nicht nach Italien , sondern nach Europa", sagte Innenminister Angelino Alfano . Regierungschef Matteo Renzi hatte mehrmals gefordert: "Europa muss mehr investieren." Ein "erster Schritt" ist aus Renzis Sicht der Start der EU-Mission "Triton" zum 1. November, die Italien beim Grenzschutz und der Überwachung des Mittelmeeres unterstützt.

Doch es bleibt auch die Frage, was mit den Flüchtlingen nach ihrer Ankunft geschieht. In Italien sind Aufnahmezentren überfüllt, der Ansturm überfordert das Land. Die EU-Länder diskutieren immer stärker über einen zweistufigen Ansatz. Auf der einen Seite wollen sie den Grenzschutz verschärfen und gegen Schleuser vorgehen, die Menschen gegen teures Geld in kaum seetüchtigen Booten auf die Fahrt nach Europa schicken. "Wir wollen nicht, dass die Menschen unterwegs sterben, weder in der Wüste noch im Mittelmeer . Das geschieht aber zur Zeit", sagt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU ).

Doch die Menschen wird es weiter nach Europa ziehen. Deshalb sei es "wohl richtig, dass man auch legale Wege nach Europa schaffen muss und nicht nur illegale Wege irgendwie verhindern", sagt de Maizière. Auf EU-Ebene gibt es daher Überlegungen, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen Aufnahmelager für Migranten in Nordafrika zu schaffen. Dort könnten diese Asylanträge stellen. Die Politik hofft, Menschen ohne Aussicht auf Aufnahme von der gefährlichen Reise abhalten zu können. Dies würde aber eine Zusammenarbeit der EU-Staaten voraussetzen und möglicherweise sogar einen Verteilungsschlüssel für die Flüchtlinge .

Nur: Von einer einheitlichen Linie sind die 28 EU-Staaten weit entfernt. In Frankreich und England feiern rechtspopulistische Parteien mit einer einwandererfeindlichen Politik Erfolge. Und für etablierte Parteien wird es dort immer schwieriger, sich bei dem Thema großzügig zu zeigen. Längst nicht alle EU-Staaten nehmen beispielsweise wie Deutschland Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien auf.

Angesichts hoher Arbeitslosenzahlen wird es vielfach nicht für vermittelbar gehalten, dass Zuwanderung auch ein sehr sinnvoller Beitrag zur Lösung demografischer Probleme sein könnte. Nur wenige Politiker sind so offen und mutig wie der Oberbürgermeister der niedersächsischen Stadt Goslar, Oliver Junk. Er machte jüngst öffentlich den Vorschlag, Einwohnerschwund und Überalterung im Harz mit vermehrter Aufnahme von Flüchtlingen zu begegnen.

Meinung:

Abschotten ist keine Lösung

Von SZ-Mitarbeiter Ralph Schulze

Mehr als 3400 Menschen sind offiziell vor der Tür Europas ertrunken. Und es werden immer mehr. Sicher ist also, dass die Abschottungspolitik, mit der EU-Staaten von Spanien bis Griechenland versuchen, illegale Einwanderer aufzuhalten, gescheitert ist. Weder hohe Zäune noch der tiefe Ozean können jene Verzweifelten bremsen, die vor Gewalt, Hunger und Verfolgung fliehen. Die EU sollte ihnen deshalb Perspektiven bieten. Am besten vor der Abfahrt Richtung Europa. Beispielsweise in von EU und UN finanzierten Auffanglagern auf nordafrikanischer Seite. Dort könnten sie Asylanträge stellen. Dies würde ganz nebenbei den Schleppern die Möglichkeit nehmen, den Migranten ihre letzten Dollar zu rauben und sie in löchrigen Kähnen übers Mittelmeer in den Tod zu schicken.

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