Der Glaube an das richtige Essen

Hannover · Wertesysteme wie Religion und Familie verlieren an Bedeutung. Diese Lücke füllt bei vielen ein bestimmter Ernährungsstil. Für manche wird daraus eine Ersatzreligion. Andere begeistern sich für „Essensporno“. Warum?

 Vegan oder doch lieber mit Fleisch? Es ist ein Kreuz mit dem Essen, wie unsere Fotomontage zeigt. Foto: Fotolia/Montage: SZ

Vegan oder doch lieber mit Fleisch? Es ist ein Kreuz mit dem Essen, wie unsere Fotomontage zeigt. Foto: Fotolia/Montage: SZ

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Zuckrige Donuts, mit Essen kunstvoll drapierte Teller und bunt belegte Sandwiches sind beliebt: Bilder und Videos von Essen werden im Internet millionenfach geklickt. Bei Instagram etwa finden sich allein zum Hashtag #food fast 200 Millionen Beiträge. "Menschen inszenieren sich heute zunehmend über einen bestimmten Ernährungsstil", sagt der Göttinger Ernährungspsychologe Thomas Ellrott. Als Veganer oder Anhänger der Steinzeit-Ernährung Paleo hebe man sich von der Menge ab. Für manchen werde der Ernährungsstil gar zur Ersatzreligion.

Ganz genau darauf achten, was sie zu sich nehmen, tun die sogenannten Foodies. So wird eine neue Konsumentengruppe neben Feinschmeckern und Gourmets genannt. Nach einer gestern in Hannover im Rahmen einer Fachtagung zum Thema "Ernährung" vorgestellten Studie der Universität Göttingen können "etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung als Foodies bezeichnet werden", erklärt Dr. Sarah Hemmerling, Hauptautorin der Studie. Foodies haben demnach ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Identitätsbildung über das Essen. Die Gruppe zeichnet eine Leidenschaft fürs Kochen und Genießen, die rege Teilnahme an kulinarischen Events sowie das Posten von Food-Bildern aus - außerdem haben sie eine Vorliebe für neuartige Lebensmittel und Gerichte sowie ein hohes subjektives Wissen über Ernährung - das nicht immer mit der Realität im Einklang steht. Sie schätzen besonders das Essen in Gesellschaft und haben einen hohen Qualitätsanspruch.

Laut den Autoren der Studie sind diese Qualitätsesser kein deutsches, sondern ein weltweites Phänomen und als Marktsegment mit Wachstumspotenzial einzuschätzen. Foodies geben im Schnitt mehr Geld für Lebensmittel aus als andere Konsumenten. "Mit einem gesteigerten Bewusstsein für Nachhaltigkeit und dem ausgeprägten Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Identitätsbildung durch Essen greifen sie zudem aktuelle Megatrends wie Gesundheit, Neo-Ökologie und Individualisierung auf", so Dr. Hemmerling.

Auch die Vernetzung und Selbstdarstellung durch das Internet, zum Beispiel durch das eingangs erwähnte Posten von Lebensmittel-Fotos auf Instagram , ist charakteristisch für dieses jüngere Verbrauchersegment, dessen Altersdurchschnitt bei 46 Jahren liegt. 89 Prozent der Foodies sehen sich als echte Feinschmecker, genauso viele kochen leidenschaftlich gerne. Für knapp 78 Prozent ist das Kochen gar eine Art der Selbstverwirklichung, bei dem sie oft auf Fleisch verzichten, gerne aber neue Gerichte ausprobieren. Interessant dabei: Die Hälfte der Foodies isst dennoch regelmäßig auswärts und bevorzugt Restaurants, die sich nicht jeder leisten kann.

Den Foodies-Gegenpol bilden die Ernährungsfunktionalisten mit 19 Prozent der Bevölkerung. Sie schenken Lebensmitteln und dem Kochen nur wenig Bedeutung. Echte Kochmuffel, die nur wenig von Lebensmittelzubereitung verstehen, sind indes 16 Prozent der Deutschen. 15 Prozent sind Gewohnheitsköche, die viel kochen, aber wenig Spaß daran haben, 20 Prozent sind Ernährungsinteressierte und 19 Prozent Light-Foodies mit zunehmender Begeisterung für das Thema. Insgesamt verdeutlicht die Studie den aktuellen Trend zum steigenden Qualitäts- und Genussbewusstsein vieler Konsumenten. Doch es gibt noch weitere Trends rund ums Essen.

Food-Porn: Unzählige Bilder von Essen werden in sozialen Netzwerken gepostet. Food Porn ("Essensporno") ist ein weltweites Phänomen. Ernährungsforscher Ellrott spricht von "digitalen Tattoos", die nichts mit der Realität zu tun haben müssen. Sie dienten der Selbstinszenierung und signalisierten die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe - wie Marken-Turnschuhe oder ein Porsche .

Vegetarisch und vegan: In Deutschland ernähren sich dem Vegetarierbund zufolge 7,8 Millionen Menschen vegetarisch und rund 900 000 vegan - täglich kommen Hunderte dazu. Die fleischlose Ernährung sei mit einer Reihe von positiven Charaktereigenschaften wie Selbstdisziplin, Tier- und Klimaschutz oder Altruismus verknüpft, sagt Ellrott.

Paleo und Beef: Parallel zum Trend Fleischverzicht gibt es Bewegungen, die (blutiges) Fleisch feiern. Die Anhänger der Paleo-Diät ernähren sich so wie unsere Vorfahren in der Steinzeit, also mit Beeren, Nüssen, aber auch Fleisch . Sie verzichten auf industriell hergestellte Lebensmittel. Gleichzeitig boomt das Geschäft rund ums Grillen. Wie groß das Thema Fleisch ist, beweist das Food- und Lifestyle-Magazin "Beef!", das sich speziell an Männer richtet.

Food-Events: Ernährungsthemen sind trendy", sagt die Göttinger Marketingexpertin Anke Zühlsdorf. Beispiele dafür sind Food-Swaps - also Tauschbörsen für Selbstgekochtes -, Food-Blogs im Internet, Food-Festivals oder Food-Trucks, die in vielen Städten zum Beispiel Veganes, Burger oder exotische Küche anbieten.

"Es hat den Anschein von Glaubenskämpfen"

Die richtige Ernährung ist für manche eine Art Ersatzreligion. Warum das so ist und wie sich das Essverhalten verändert hat, darüber hat sich SZ-Redakteur Thorsten Grim mit Dr. Angelika Thönnes vom Adipositas-Netzwerk Saar unterhalten.

Aspekte wie Moral und Selbstverwirklichung spielen heutzutage eine sehr große Rolle - auch bei der Ernährung. Täuscht der Eindruck, dass die "richtige" Ernährung für manche zu einer Art Ersatzreligion geworden ist?
Thönnes:
Dass es manchmal den Anschein von Glaubenskämpfen zwischen den unterschiedlichen Ernährungsüberzeugungen aber auch zwischen den Empfehlungen von Experten und Fachgesellschaften hat, ist richtig. Hier hilft nur eine sachliche Auseinandersetzung. Hinter dem Vorwurf Ersatzreligion verbirgt sich ja unser Wunsch nach möglichst langer Gesundheit und Attraktivität. Dabei hat die Ernährung heute für viele einen hohen bis überhöhten Stellenwert, der mit einer Identifikation über die persönliche Ernährungsweise einhergeht. Es geht nicht nur um die richtige Ernährung, sondern um ein ganz persönliches Selbstverständnis. Den Sinn gebenden Charakter einer Religion kann Ernährung nicht erfüllen. Positiv ist, dass man sich vermehrt mit Ernährung beschäftigt, dass wir mehr erfahren über die gesundheitlichen Auswirkungen und über Produktionswege und entscheiden können, was dabei unsere Verantwortung ist.

Ist eine Ernährung, die ganz auf tierische Produkte verzichtet, gesund? Gerade auch für Kinder und Heranwachsende?
Thönnes:
Vegetarische Ernährung ist unbedenklich, vegane Ernährung bei Kindern sehe ich indes kritischer, denn sie hat oft einen Vitamin-B-12-Mangel zur Folge. Vereinfacht gesagt ist es eine große Anforderung, bei veganer Ernährung komplett ohne die Ergänzung bestimmter Vitamine und Mineralstoffe auszukommen. Sehr versierte Veganer schaffen das, die kennen sich in der Palette so aus, dass sie drohenden Vitaminmangel ausgleichen können und daher auch durchaus gesund leben.

Einfluss auf die Ernährung haben auch Medien. Animieren superschlanke Models zum Nacheifern? Thönnes: Die Überbewertung des Äußeren, vor allem der Figur führt zu einer kritischeren Einstellung gegenüber dem Körper, dies ist bereits bei Kindern festgestellt worden. Die kann eine Ursache für ein gestörtes Essverhalten werden. Wenn ich mit mir nicht zufrieden bin, versuche ich ständig an mir herumzuexperimentieren und nach neuen Wegen zu suchen, wie ich es hinbekomme, so schlank zu sein. Uns werden ja auch immer wieder neue Diäten offeriert, die dabei helfen sollen. Doch da darf man sich nicht blenden lassen: Diese Diäten sind nicht selten der Einstieg in ein gestörtes Ernährungsverhalten und begünstigen damit eher Übergewicht und Adipositas. Die Störung eines ausgewogenen Essverhaltens ist der Einstieg in die Übergewichtsentwicklung.

Das ganze Interview findet sich im Netz unter: <strong>www.saarbruecker-zeitung.de/interviews

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