Der Gewinner bekommt alles
Jean-Claude Juncker (59) war am Morgen nach der langen Wahlnacht in Bestform. Er sehe trotz der Strapazen überraschend fit aus, bemerkte ein britischer Journalist in Junckers Pressekonferenz.
"Ich bin eben nicht der müde alte Mann, über den die Medien so gerne schreiben", konterte der Luxemburger.
Der Spitzenkandidat der europäischen Christdemokraten hatte allen Grund zum Scherzen. Denn seine Europäische Volkspartei (EVP) gewann den Urnengang deutlich vor den Sozialdemokraten mit Spitzenmann Martin Schulz. Letzte Zahlen sehen einen Vorsprung von 25 Sitzen im neuen EU-Parlament - 214 zu 189 der insgesamt 751 Mandate. Damit ist für den ehemaligen Luxemburger Regierungschef klar: Er ist am Zug, sich im EU-Parlament die nötige absolute Mehrheit (376 Stimmen) für seine Wahl zum Kommissionspräsidenten zu suchen: "Ich erwarte ein entsprechendes Mandat."
Ganz so einfach dürfte die Sache aber nicht werden: Schon in der Wahlnacht kündigte Martin Schulz an, dass er sich keineswegs geschlagen geben, sondern seinerseits versuchen will, eine Mehrheit im Europaparlament für seine Inhalte zu zimmern.
Juncker gab Schulz den freundschaftlichen Rat, "nicht auf einen Weg zu gehen, der zu keinem Ziel führt". Es gebe nämlich keine Mehrheit an den Christdemokraten vorbei - zumindest, wenn man sich nicht auf Radikale, Populisten und EU-Hasser als Mehrheitsbeschaffer stützen will. Sprich: Juncker und Schulz sind zur Zusammenarbeit verdammt. Brüssel bekommt wohl eine große Koalition wie Berlin. Klar ist: Schulz wird sich eine Unterstützung für Juncker möglichst teuer abhandeln lassen. Fragt sich, was für ihn dabei herausspringen soll. Der gelernte Buchhändler könnte darauf pokern, dass Kanzlerin Angela Merkel ihn als deutschen Kommissar nach Brüssel schickt. Ambitionen werden Schulz auf das Amt des Beauftragten für Außenpolitik nachgesagt. Der ist gleichzeitig Kommissionsvize. Das wäre ein sehr honoriger "Trostpreis" für einen wackeren Wahlkampf des Sozialdemokraten.
Am Abend kommen alle 28 Staats- und Regierungschefs der EU zusammen, um über das Wahlergebnis und die Folgen zu diskutieren. Der vom Erfolg der EU-Hasser demontierte britische Premier David Cameron hat schon angekündigt, Juncker als Kandidat für den Chefsessel der Kommission nicht zu unterstützen. Auch der Ungar Victor Orban will sich gegen Juncker stellen. 93 Stimmen im Rat würden reichen, um Juncker zu stoppen. Mit Orban käme Cameron aber nur auf 41 Stimmen. Weitere mögliche Verbündete könnten Skandinavier und Niederländer sein.
Am Ende kommt es wohl auf die Bundeskanzlerin an. Kritiker sagen ihr eine eher halbherzige Unterstützung für Parteifreund Juncker nach. Außerdem hat sie sich zuletzt immer sehr bemüht, Rücksicht auf London zu nehmen - etwa beim Streit um den Haushalt. Juncker zeigte sich nach einem Telefonat mit der CDU-Chefin gestern dennoch entspannt: "Ihre Position ist kristallklar. Ich weiß, was ich weiß", orakelte er in seiner Pressekonferenz. Klarer wollte der Polit-Fuchs nicht werden.
Der Zeitplan für Europas neue Top-Riege ist jedenfalls ehrgeizig: Schon Mitte Juli soll der nächste Kommissionspräsident vom Europaparlament gewählt werden. Doch wohl erst Ende Juni ist klar, wie groß nun tatsächlich die Fraktionen sind. Denn neue Parteien wie die AfD müssen sich erst entscheiden, wem sie sich in der EU-Volksvertretung anschließen. Das kann die Kräfteverhältnisse nochmal verschieben.
Darauf hofft Martin Schulz. Doch Junckers Umfeld trat gestern Spekulationen entgegen, die Konservativen könnten durch Abgänge entscheidend geschwächt werden. Das Gegenteil sei der Fall. Frei nach dem Motto: "The winner takes it all."
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Am RandeAus den Plänen des frisch gewählten Europaparlamentariers Martin Sonneborn, demnächst von seinem neuen Posten zurückzutreten und für die kommenden sechs Monate Übergangsgeld zu beziehen, wird wohl nichts. Aus dem Europaparlament hieß es dazu, die Parlamentarier hätten erst nach einem Jahr Anspruch auf Übergangsgeld. Sonneborns Satire-Partei "Die Partei" hatte bei der Europawahl am Sonntag 0,6 Prozent der Stimmen erhalten und einen Sitz im Parlament gewonnen.Sonneborn hatte angekündigt, eine Rotation einleiten zu wollen. "Wir werden versuchen, monatlich zurückzutreten, um 60 Parteimitglieder durchzuschleusen durch das EU-Parlament. Das heißt, dass jedes dieser Mitglieder einmal für 33 000 Euro im Monat sich Brüssel anschauen kann und dann zurücktritt und noch sechs Monate lang Übergangsgelder bezieht. Wir melken die EU wie ein kleiner südeuropäischer Staat."dpa