NS-Prozess SS-Wachmann aus Angst vor den Nazis?

Münster · Am dritten Prozesstag ging es um die Rolle, die der wegen hundertfacher Beihilfe zum Mord Angeklagte im KZ Stutthof spielte.

 Eine Entschuldigung äußerte der 94-jährige ehemalige SS-Wachmann gegenüber Opfern und Überlebenden des Konzentrationslagers nicht. Hier wird er von einem Justizbeamten im Rollstuhl in den Sitzungssaal gefahren.

Eine Entschuldigung äußerte der 94-jährige ehemalige SS-Wachmann gegenüber Opfern und Überlebenden des Konzentrationslagers nicht. Hier wird er von einem Justizbeamten im Rollstuhl in den Sitzungssaal gefahren.

Foto: dpa/Guido Kirchner

„Sie nannten mich Bubi. Wohl, weil ich so klein und schmächtig war.“ Der ehemalige SS-Wachmann, der sich wegen hundertfacher Beihilfe zum Mord vor dem Landgericht Münster verantworten muss, hat gestern am dritten Prozesstag erklärt, warum er im Konzentrationslager der Nazis bei Danzig seinen Dienst verrichtete. Einer der Gründe: Weil er so klein und schmächtig war, habe ihn die Wehrmacht als in Rumänien geborenen Volksdeutschen nicht an die Front geschickt. Zur SS sei er nicht freiwillig gegangen. „Ich war sehr verängstigt. Es war ein großer Schock, wie die Deutschen mit den Häftlingen umgesprungen sind“, ließ der in armen Verhältnissen aufgewachsene, nach eigener Aussage sehr gläubige Sohn von Tagelöhnern dem Gericht mitteilen.

Im Lager Stutthof selbst hatte er dann nach seiner Schilderung bei seinen Vorgesetzten gewisse Privilegien. „Ich hatte ein besonderes Verhältnis zum Kompaniechef. Ich vermute, weil der in der Zeit seinen eigenen Sohn verloren hat“, ließ der 94 Jahre alte Deutsche aus dem Kreis Borken seinen Anwalt verlesen.

Die Anklage wirft dem Mann vor, als Wachmann in dem Lager für mehrere Hundert Morde zwischen 1942 und 1944 mitverantwortlich gewesen zu sein. Zwar soll er nicht selbst getötet haben, aber durch seinen Dienst das systematische Morden der Nazis ermöglicht haben. Die Anklage spricht dabei von vorsätzlicher Hilfe und geht davon aus, dass der damals zwischen 18 und 20 Jahre alte Mann von den systematischen Tötungen gewusst haben muss.

Er ließ nun verlesen: „Mir ist beim Transport aus meiner Heimat zum Dienst schnell klar geworden, dass die deutsche Wehrmacht alles andere als großartig ist. Das Bild, das uns versucht wurde zu vermitteln, war falsch. Mir fiel es als Christ schwer, Teil des Ganzen zu sein. Ich hatte aber zu große Angst, mich aufzulehnen.“

Und heute schäme er sich, alles hingenommen zu haben. „Aber ich kann nicht sicher sagen, ob ich aus heutiger Sicht damals den Mut aufgebracht hätte, anders zu handeln“, ließ der Angeklagte verlesen. Dabei sitzt der 94-Jährige wie bereits seit Prozessstart im Rollstuhl und wischt sich mehrmals Tränen aus dem Gesicht. Er fühlte sich schlecht ausgebildet und hatte Angst vor seinem Einsatz in Stutthof. Den Ort hielt er anfangs für ein Strafgefangenenlager für polnische Intellektuelle. Nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralen Stelle in Ludwigsburg starben bis Kriegsende 65 000 Menschen in Stutthof und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen. Mehrere Tausend Insassen wurden dabei von den Nazis noch kurz vor Kriegsende und der Befreiung durch die anrückende Rote Armee schlecht ausgerüstet und körperlich in miserablem Zustand zu kilometerlangen Gewaltmärschen gezwungen.

Zu diesem Zeitpunkt aber war der Mann aus dem Kreis Borken im westlichen Münsterland nicht mehr in Stutthof. Sein Vorgesetzter hatte ihm – trotz Untauglichkeitsbescheinigung – den Frontbefehl verschafft. „Am Ende ein großes Glück. Ich habe die Front überlebt. Dafür bin ich dankbar“, ließ der Angeklagte mitteilen. Eine Entschuldigung für seine Rolle gegenüber Opfern und Überlebenden des Konzentrationslagers äußerte er in seiner ersten Stellungnahme nicht.„Die Häftlinge waren in einem grauenvollem Zustand. Ich habe mich geschämt. Mitleid wäre das falsche Wort. Mir fällt es sehr schwer, die richtigen Worte zu finden. Mir war das Schicksal der Häftlinge nicht gleichgültig. Ich hatte große Schwierigkeiten, damit klarzukommen.“

Ihm sei aber klar geworden, wie die Nazis mit den Menschen umgingen. Als Staatsfeind angesehen zu werden. habe er daher vermeiden wollen. Dass es sich um ein Tötungssystem gehandelt habe, sei ihm erst viel später klar geworden. „Die Existenz einer Gaskammer war mir nicht bewusst. Das Gebäude mag es gegeben haben. Wir gingen von einer Entlausungskammer aus. Laut Anklage ging die Gaskammer erst im Sommer 1944 in Betrieb. Ich hoffe, dass dies erst nach meinem Weggang im August passiert ist“, erklärt der 94-Jährige über seinen Verteidiger.

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