Der Chef und sein Meisterstück

Berlin · Eigentlich war die Idee für die Basisabstimmung zum Koalitionsvertrag aus der Not geboren. SPD-Chef Sigmar Gabriel nutzte aber die Gunst der Stunde und setzte sich an die Spitze der Bewegung. Bei einer Annahme des Vertrages wird er zum unangefochtenen Anführer der SPD.

Niemand kommt in der Politik ganz an die Spitze, wenn er nicht irgendwann alles auf eine Karte setzt. Zwar muss Sigmar Gabriel noch die Basisabstimmung gewinnen, aber kaum jemand zweifelt daran, dass am heutigen Samstag ein entsprechendes Ergebnis verkündet werden wird. Der Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag mit der Union war sein Trumpf-Ass. Und der 54-jährige Goslarer hat es zum exakt richtigen Zeitpunkt ausgespielt.

Wer nun denkt, Gabriel sei ein Graswurzler der Basisdemokratie, irrt. Die ganze Operation war aus der Not geboren und auch Ausfluss des versteckten Machtkampfes mit Frank-Walter Steinmeier, dem Fraktionschef, der verloren hat und nun wohl oder übel den Außenminister wird machen müssen.

Gabriel wäre eigentlich selbst gern Kanzlerkandidat geworden, musste sich aber eingestehen, dass er am wenigsten beliebt war. Also ließ er zähneknirschend Steinmeier und Peer Steinbrück den Vortritt. Im Nachhinein war das Glück, denn Steinmeier verzichtete bekanntlich und Steinbrück scheiterte. Wäre die SPD am 22. September komplett baden gegangen, hätte es auch Gabriel davongefegt. Nun aber fand er sich als Parteichef in einer Schlüsselrolle wieder.

Dass Gabriel sich für die Sondierungsgespräche mit der Union fünf Tage nach der Wahl grünes Licht von einem kleinen Parteitag, dem Konvent, holte, war noch eine Reaktion auf die massiven Widerstände gegen ein solches Bündnis. Und dass er dem Konvent einen Mitgliederentscheid vorschlug, war auch nicht ganz allein seine Idee. Die Parteilinke hätte ihn sonst beantragt. Aber Gabriel erkannte früh, dass die SPD erst einmal Zeit brauchte, um eine zweite große Koalition unter Angela Merkel gedanklich überhaupt zu erwägen. Sein Meisterstück liegt darin, dass er sich dem Wunsch der Basis nach Beteiligung nicht entgegenstellte, sondern sich an die Spitze der Bewegung setzte. Und dass er den bevorstehenden Mitgliederentscheid dann als Druckmittel gegen die Union nutzte, um Verhandlungserfolge herauszuschlagen. Als er vor zwei Wochen im ZDF-Interview die Einwände von Moderatorin Marietta Slomka gegen den Mitgliederentscheid als "Quatsch" zurückwies, wurde er endgültig zum Helden der Basis. Partei und Führung sind in der SPD zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren wieder eins.

Das ist Gabriel auch emotional sehr wichtig. Bei seiner Lebensgeschichte darf man schon fragen, ob die SPD nicht auch Familienersatz für ihn ist. Jedenfalls ist er sehr nah am Wasser gebaut, wenn es auf Parteitagen warm und historisch wird; dann sieht man schon mal glasige Augen. Und auf Pressekonferenzen reagiert er regelrecht beleidigt, wenn einer seiner jovialen Sprüche nicht richtig ankommt. Der Mann will gemocht werden.

Gabriel erlebte mit drei Jahren die Trennung seiner Eltern und wuchs nach einem erbitterten Sorgerechtsstreit zehn Jahre lang bei seinem tyrannischen Vater in einer Wohnsiedlung in Goslar auf. Gegen seinen Willen. Mit 18 erfuhr er, dass dieser Vater bis zuletzt ein überzeugter Nationalsozialist war. Gabriel hat keine leichte Kindheit gehabt, und es ist bewundernswert, dass aus diesem Jungen trotzdem ein Lehrer, Kommunalpolitiker und schließlich sogar Ministerpräsident des Landes Niedersachsen wurde. Es ist übrigens eine Lebensgeschichte, die erstaunlich der Gerhard Schröders ähnelt. Mit dem hat sich Gabriel regelmäßig Hahnenkämpfe geliefert, in Hannover schon. Zwei Zampanos mit gleichem Stil und gleichem Ziel: Kanzler. Unvergessen ist Gabriels Kommentar "Voodoo-Ökonomie" über Schröders Finanzpolitik. Und auch, dass Schröder ihn deshalb später zum "Pop-Beauftragten" der SPD degradierte: Siggi Pop war geboren.

Wer Gabriel dieser Tage bei den SPD-Regionalkonferenzen beobachtet, merkt, wie sehr er es genießt, einen Saal packen und überzeugen zu können. Paternalistisch, väterlich, anders lassen sich seine Auftritte nicht beschreiben. Er duzt viele, über das Genossen-Du hinaus, weil er sich viele Namen merken kann. Er zeigt, dass er die Wirklichkeit des Lebens kennt, in den Ortsvereinen, in den Betrieben. Er hat wiederkehrende Lieblingspassagen in seinen Reden, in denen es um seine Mutter geht, die Krankenschwester war. Wenn er sagt, das Abkommen mit der Union sei "ein Koalitionsvertrag für die kleinen, fleißigen Leute", dann glaubt man ihm das eher, als man es einem Schröder mit Cohiba-Zigarre oder einem Steinbrück geglaubt hätte.

Aber diese Rolle konnte zum Beispiel auch Franz Müntefering. Gabriels Eroberungsfeldzug in die Herzen der Sozialdemokraten gelingt nur, weil er sich von der Politik Schröders und Münteferings distanziert. Kaum beachtet wird, wie offen er bei den Regionalkonferenzen sagt, dass die Koalitionseinigung über die Rente mit 63 Jahren für langjährig Versicherte "die Abschaffung der Rente mit 67 für die ganz normalen Berufe" ist. Und dass er die Anhebung des Renteneinstiegsalters durch Müntefering als "Blödsinn" bezeichnet. Wie offen er sich von den Agenda-Reformen absetzt. Dieser Koalitionsvertrag bringe die SPD wieder ins Reine mit sich selbst, ihren Wählern und den Gewerkschaften. "Und das wollt ihr ablehnen?" Dass er als niedersächsischer Ministerpräsident den Agenda-Reformen und als Umweltminister in der ersten großen Koalition auch der Rente mit 67 zugestimmt hat, das verschweigt Gabriel. Wenn er den Mitgliederentscheid gewinnt, wird er Vizekanzler. Und dann wird man sehen, welcher Gabriel regiert. Der Basis-Gabriel - oder der alte Zampano.

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