Der Brief in die Vergangenheit

Saarbrücken · In Lateinamerika kennt sie jeder Literaturliebhaber, im Saarland ist sie fast unbekannt: Die 89-jährige Übersetzerin und Autorin Edith Aron, die in Homburg geboren wurde. Kürzlich schrieb sie uns einen rätselhaften Brief. Was hat es mit ihm auf sich?

 Aron 2010 in London bei den Dreharbeiten zu einer bislang unfertigen Dokumentation. Foto: Carpe diem

Aron 2010 in London bei den Dreharbeiten zu einer bislang unfertigen Dokumentation. Foto: Carpe diem

Foto: Carpe diem
 Edith Aron sitzt als Mädchen auf der Motorhaube des Autos ihres Vaters in Homburg. Foto: privat

Edith Aron sitzt als Mädchen auf der Motorhaube des Autos ihres Vaters in Homburg. Foto: privat

Foto: privat

Am Anfang war der Brief. Vor wenigen Wochen liegt er in unserem Redaktions-Postfach. Der Absender: Edith Aron, Grove End Gardens, London. Grove End Gardens - jene schicke Straße, die unmittelbar an den berühmten Abbey-Road-Zebrastreifen anschließt? Wir öffnen den Umschlag und finden ein kurzes Schreiben, ein paar Gruß-Zeilen nur, genug jedoch, um neugierig zu werden.

Denn Edith Aron ist keine Unbekannte, auch wenn sich ihre Lebensgeschichte im Saarland noch kaum herumgesprochen hat. Als Schriftstellerin, vor allem aber als Übersetzerin hat sich Aron einen Namen gemacht. In der lateinamerikanischen Literaturszene kennt sie jeder, war sie es doch, die Autoren wie Jorge Luis Borges oder dem späteren Nobelpreisträger Octavio Paz mit ihren Übersetzungen hierzulande ein großes Lesepublikum bescherte. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte Aron in Buenos Aires, in Paris, Berlin und London. Doch ihre Heimat ist das Saarland. Genauer: Homburg, wo sie 1923 als Tochter jüdischer Eltern geboren wurde und ihre Kindheit verbrachte. Bis vor zehn Jahren wusste hier kaum jemand von der bekannten Tochter der Stadt. Erst die Wiedereinweihung der Synagoge, an der Aron teilnahm, rückte sie 2003 ins Bewusstsein der Homburger. 2010 entschied sich der Stadtrat, einen Schulpreis nach Aron zu benennen.

Im selben Jahr wurde auch die Filmproduzentin Barbara Wackernagel-Jacobs auf Arons Geschichte aufmerksam. Zusammen mit Regisseur Boris Penth beschloss sie, nach London zu fliegen. Ihr schwebte eine längere Dokumentation vor, die Arons Lebensstationen nachzeichnet. Nach Paris und Südamerika wollte das Filmteam dafür reisen. Bis heute ist es bei sechs Stunden Interview-Material geblieben, das als Rohschnitt bei Wackernagel-Jacobs lagert. Erst sei die Finanzierung des Projekts ins Wanken geraten, erzählte uns die Produzentin vor einigen Wochen. Dann habe sich Aron aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr zugetraut, nach Homburg zu reisen, wo man mit ihr auf Spurensuche gehen wollte.

Das Londoner Interview von 2010 ist ein zeitgeschichtliches Juwel. Zu sehen ist eine 87-Jährige, die man nicht nur äußerlich 20 Jahre jünger geschätzt hätte. Sie erzählt von ihrer Zeit in der jüdischen Schule in Homburg. Von der Machtergreifung der Nazis, die sie als Zehnjährige miterlebt, ohne die politische Tragweite zu begreifen. Detailliert erinnert sich Aron an das Homburg der frühen 30er-Jahre, an Nachbarn, Straßenzüge, Feste. Sie erzählt in geschliffener Sprache, mit kräftiger Stimme, die immer mal wieder für kurze Momente an Festigkeit verliert, etwa wenn es um die Gründe geht, warum ihre Mutter 1935 - noch vor der Saarabstimmung - mit ihr das Saarland verlässt. Die Nazis spielten dabei kaum eine Rolle. Vielmehr will die Mutter nicht länger zusehen, wie ihr Mann sie mit anderen Frauen betrügt.

Elf Jahre ist Edith Aron alt, als sie Europa verlässt, den Dampfer in Rotterdam Richtung Südamerika besteigt. Der schmerzliche Abschied vom Vater erweist sich Jahre später als Glück im Unglück: Denn der Vater bleibt zunächst zwar in Homburg, muss jedoch Anfang der 40er-Jahre nach Südfrankreich fliehen, wo er nur durch einen Zufall der Gestapo entkommt. Edith Aron lebt zu der Zeit in Buenos Aires, besucht eine deutsche Schule. Jeden Tag zieht sie durch die Straßen, saugt die spanische Sprache auf. Anfang der 50er will sie ihren Vater wiedersehen. Auf dem Schiff nach Europa lernt sie Julio Cortázar kennen, zu dem sie eine enge Beziehung entwickelt und dessen Werke sie später übersetzt. Cortázars "Rayuela" gilt als einer der wichtigsten Romane Lateinamerikas. Die Hauptfigur Maga ist unverkennbar an Aron angelehnt.

Nur kurz bleibt Aron im Saarland, bevor sie zum Studium nach Paris zieht. Hier lernt sie Paul Celan kennen. Mit Celans Frau, der Grafikerin Gisèle Celan-Lestrange, bleibt sie bis zu deren Tod befreundet. Auch von den weiteren Stationen - Berlin und London, wohin sie später mit Mann und Tochter zieht - erzählt Aron in dem Interview.

Kann es wirklich sein, dass all diese spannenden Geschichten der Öffentlichkeit verborgen bleiben? Kurz nach unserem ersten Gespräch mit Wackernagel-Jacobs erhalten wir eine gute Nachricht: Vielleicht wird es doch noch was mit dem Film. Eventuell gebe es einen neuen Geldgeber für eine kürzere Version, erzählt die Produzentin.

Schließlich wollen wir Aron doch noch selbst sprechen, ihr für den Brief danken, der mit den Zeilen beginnt: "Liebe Saarbrücker Zeitung, ich weiß nicht, warum ich heute Morgen auf die Idee kam, Ihnen zu schreiben . . .". Wir rufen in London an und werden von einer hörbar gerührten Aron begrüßt. "Ja, der Brief . . .", sagt sie und stockt. "Je älter man wird, desto wichtiger wird die Heimat." Einmal folgte sie einem spontanen Impuls, wählte eine Telefonnummer. Als am anderen Ende jemand "Stadtverwaltung Homburg" sagte, legte sie beruhigt wieder auf. Wir plaudern noch ein wenig. Und plötzlich rückt Aron mit einer Überraschung heraus: "Ich würde gerne zu meinem 90. Geburtstag im Herbst nach Homburg kommen." Ihre Tochter, eine Sängerin, sei liiert mit einem Cellisten. Beide wolle sie mitbringen. "Sie werden Musik machen - das ist mein Gastgeschenk."

Am Anfang war der Brief. Bald könnte ein Film folgen - und im September vielleicht ein Fest. Für Edith Aron wäre es ein Wiedersehensfest. Ein Wiedersehen mit der Vergangenheit.

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