Der „Alte Mann“ rettet elf Bergleute

Lengede · Das „Wunder von Lengede“ bleibt unvergessen – auch 50 Jahre nach dem Bergwerksunglück, das weltweit bewegte. 29 Bergleute starben, doch elf Männer wurden noch nach zwei Wochen aus der Tiefe geholt.

 Das Wunder von Lengende: 14 Tage nach dem Grubenunglück werden elf Männer lebend aus der Tiefe der Erzgrube „Mathilde“ geholt. Überlebt hatten sie in einem leergeräumten Stollen, dem „Alten Mann“.

Das Wunder von Lengende: 14 Tage nach dem Grubenunglück werden elf Männer lebend aus der Tiefe der Erzgrube „Mathilde“ geholt. Überlebt hatten sie in einem leergeräumten Stollen, dem „Alten Mann“.

Nach sieben Tagen in völliger Dunkelheit, eingesperrt in 40 Metern Tiefe ohne Essen und ohne Hoffnung, beginnen die ersten Bergleute zu halluzinieren. Einer will ein heißes Bad nehmen und wälzt sich in einer Pfütze mit sieben Grad kaltem Wasser. Ein anderer pflückt Äpfel in seinem Garten. Tatsächlich steht er an einer Wand der kleinen, höchst einsturzgefährdeten Höhle und greift nach lockeren Steinen. Aufgeregt reißen die anderen ihn weg. Zwischen den elf noch lebenden Bergleuten liegen zehn Tote, erschlagen von herabfallendem Gestein. Jederzeit kann es den nächsten treffen. Der Jüngste der Schicksalsgemeinschaft ist der 20-jährige Adolf Herbst, der selbst gar kein Bergmann ist. 50 Jahre nach dem Unglück in der Eisenerzgrube Lengede-Broistedt sitzt Herbst in einem warmen, lichten Wintergarten in einem Vorort von Hannover und spricht über die dunkelsten Tage seines Lebens. "Ich hatte zu 85 Prozent mit meinem Leben abgeschlossen", erinnert sich der heute 70-Jährige.

Es ist der Abend des 24. Oktober 1963, über dem kleinen Ort Lengede bei Salzgitter in Niedersachsen liegt dichter Nebel. In der örtlichen Eisenerzgrube malochen die Bergleute in drei Schichten rund um die Uhr. 129 Kumpel sind um 14 Uhr in den Schacht Mathilde eingefahren, manche bis zur 60-Meter-Sohle, andere bis nach ganz unten auf 100 Meter. Mit Sprengstoff jagen sie dort metallreiches Gestein aus dem Berg. Adolf Herbst tüftelt in der Pumpenkammer. Sein Auftrag ist es, die Wasserpumpe mit einer Automatik zu versehen. Sie soll von allein anspringen, wenn wieder zu viel Wasser in die Grube gelaufen ist - offenbar war das in den Tagen zuvor immer wieder passiert.

Die Spätschicht dauert noch rund zwei Stunden, als das Unglück mit einem Grollen beginnt. Um kurz vor 20 Uhr platzt die Dichtung eines Klärteichs, der direkt neben der Grube liegt. 500 000 Liter Wasser stürzen durch den vermeintlich abgedichteten Verbindungsschacht in das Bergwerk. Der Luftdruck in der Grube steigt schlagartig an. Starker Wind bläst durch die Stollen. Als die Bergleute begreifen, dass etwas nicht stimmt, schießt ihnen schon das Wasser um die Beine. Es steigt und steigt. Die Kumpel rennen um ihr Leben, dem Schein ihrer Grubenlampen hinterher. Dorthin, wo sie glauben, dem Wasser entkommen zu können, zu den wenigen Ausgängen aus dem unterirdischen Labyrinth.

Adolf Herbst, der keine Sicherheitsunterweisung bekommen hat, ist vollkommen verloren. Seine Grubenlampe hat den Geist aufgegeben. Verzweifelt rennt er einer Gruppe von Bergleuten hinterher. Die Flucht dieser 21 Männer endet erst einmal auf einem Gesteinshaufen umspült von tosendem Wasser. Der Pegel steigt und steigt. Es scheint eine Frage der Zeit, bis die Kumpel ertrinken. Da ruft einer: "Wir gehen in den Alten Mann." So nennen Bergleute leergeräumte Stollen, die nach dem Abbau sich selbst überlassen werden. Dort hinein zu gehen, ist lebensgefährlich. Auf allen vieren kriechen die Bergleute, mit ihnen Adolf Herbst, durch einen engen Schacht aufwärts. Sie erreichen eine kleine Höhle, an deren Eingang zwei Kumpel sofort von Steinplatten erschlagen werden. Das Wasser kommt den Flüchtenden nach, macht aber am Eingang der Höhle Halt. Die Bergleute sitzen fest. Zehn von ihnen kommen durch Steinschläge ums Leben.

Insgesamt 50 Kumpel werden nach dem Bruch des Klärteichs vermisst. Am Tag nach dem Unglück beginnen Experten mit Suchbohrungen nach den Eingeschlossenen. Bis zum 1. November können zehn Männer gerettet werden. Damit meint die Bergwerksleitung, alles getan zu haben und lässt die übrigen 40 Vermissten für tot erklären. Nur auf massiven Druck der Belegschaft lässt sich die Betriebsleitung dazu bewegen, zehn Tage nach dem Unglück eine letzte Suchbohrung zu starten. Was dann geschieht, verdient den Namen Wunder: Auf seinem Weg in die Tiefe wird der Bohrkopf stark abgelenkt, so dass er sein eigentliches Ziel um zwei Meter verfehlt. Nur dadurch trifft die Bohrung die richtige Höhle. Als die Eingeschlossenen mit Klopfzeichen auf sich aufmerksam machen, ist oben die Sensation perfekt. Über eine etwas breitere Versorgungsbohrung werden Essen, Wasser und Unterwäsche in den "Alten Mann" geschickt.

Die sich schwierig gestaltende Rettungsbohrung erreicht am 7. November die Höhle. Zwei Steiger werden hinuntergelassen, um den Männern beim Einstieg zu helfen. "Allein wäre niemand von uns in die Kapsel gekommen", betont Adolf Herbst. "Ich bin als Vierter dran gewesen", erinnert er sich und holt ein Foto hervor, das ihn gestützt auf die Arme von zwei Rettern zeigt. 29 Bergleute seien damals umgekommen, sagt Herbst. Das dürfe niemand vergessen - Wunder hin oder her.

 Adolf Herbst zeigt ein Foto seiner Rettung. Am Unglückstag war der Starkstrommonteur erstmals überhaupt unter Tage. Foto: Bensiek

Adolf Herbst zeigt ein Foto seiner Rettung. Am Unglückstag war der Starkstrommonteur erstmals überhaupt unter Tage. Foto: Bensiek

Foto: Bensiek
 Gerettet – 336 Stunden nach der Einfahrt: Adolf Herbst (r.) mit seiner Verlobten Dagmar Valeska. Fotos: AP Photo/Lohmann

Gerettet – 336 Stunden nach der Einfahrt: Adolf Herbst (r.) mit seiner Verlobten Dagmar Valeska. Fotos: AP Photo/Lohmann

Zum Thema:

Rückschau24. Oktober 1963 In der Eisenerzgrube "Mathilde" bricht gegen 20 Uhr ein Klärteich. 500 000 Liter fluten die Grube.25. Oktober Gegen Abend werden sieben der 50 vermissten Kumpel bei einer Suchbohrung entdeckt und gerettet.1. November Drei weitere Überlebende werden gerettet. Die anderen Vermissten hat die Grubenleitung für tot erklärt.2. November Während die Trauerfeier vorbereitet wird, setzen Bergleute eine letzte Suchbohrung durch. 3. November Überlebende geben Klopfzeichen.6. November Bundeskanzler Ludwig Ehrhardt reist an und spricht den Männern über Mikrofon Mut zu.7. November Im Fünf-Minuten-Takt werden die elf Männer am Mittag vor laufenden Kameras ans Tageslicht geholt. dpa

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