Der Alptraum jedes Lokführers

Saarbrücken. Der Tod von Robert Enke ist der Fußballnation ins Gebein gefahren: Was für ein armer, verzweifelter Mensch muss der Torhüter der Nationalmannschaft gewesen sein

Saarbrücken. Der Tod von Robert Enke ist der Fußballnation ins Gebein gefahren: Was für ein armer, verzweifelter Mensch muss der Torhüter der Nationalmannschaft gewesen sein. Doch so groß die persönliche und familiäre Katastrophe war und noch ist: Enke hat mit seiner Entscheidung, sich vor einen Regionalzug zu werfen, die Leben zweier anderer Menschen entscheidend in Mitleidenschaft gezogen - nämlich der beiden Lokführer, die den Zug steuerten. Von deren Familien einmal abgesehen.

Jedes Jahr müssen zwischen 800 und 1000 Lokführer auf deutschen Gleisen auf entsetzliche Weise miterleben, wie ein Mensch vor ihnen auf den Gleisen steht oder liegt - in gnädigeren Fällen ist es zu dunkel, um das Grauen kommen zu sehen. Hinzugerechnet werden müssen auch jene Fälle, in denen die Lebensmüden den Aufprall des Zuges überleben - schlimm verletzt, oft verstümmelt.

Als er die Nachricht vom Freitod Enkes erfuhr, seien auch ihm die beiden Lokführer "durch den Kopf gegangen", sagt Günter Seidler (Foto: SZ). Der Medizinprofessor weiß, wovon er redet. Als Leiter der Sektion Psychotraumatologie an der Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin der Uni-Klinik Heidelberg hat Seidler selber Lokführer behandelt, die machtlos zusehen mussten, wie ihr Zug einen Menschen tötete. "Die Lokführer seien danach "meist in schlimmem Zustand und werden häufig vergessen", sagt Seidler. Und selbst wenn sie nach psychologischer Betreuung irgendwann wieder den Führerstand einer Lokomotive oder eines Triebwagens besteigen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass sie das psychotraumatische, also seelisch verletzende Erlebnis bis zum Ende ihrer Dienstjahre noch einmal über sich ergehen lassen müssen.

Ein Trauma kann sich nicht nur dann herausbilden, "wenn ein Mensch in Lebensgefahr gewesen ist und Todesangst erlebt hat", sagt Seidler. Traumatisiert werden könne nämlich auch, wer hilflos Tod oder Sterben bei anderen beobachtet und dabei existenzielle Angst erlebe. Die Gefühle Hilflosigkeit und Todesangst seien "unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass sich ein Trauma entwickeln kann". So mancher betroffene Lokführer könnte hiervon ein Lied singen, wenn ihm danach zumute wäre.

Günter Seidler kann aber noch aus einem ganz anderen Grund mitfühlen, was ein Lokführer in solch einem Fall durchmachen muss. "Ich bin selbst mal mitgefahren, um den Arbeitsplatz kennen zu lernen, als es passierte", berichtet er. "Es ist furchtbar, wenn eine Bremsung eingeleitet wird, die Situation immer näher kommt, man kann nicht ausweichen. Es ist klar, was passieren wird, und dann der Aufprall."

Wenn ein ICE einen aufrecht stehenden Lebensmüden erfasst, "zerplatzt das Opfer wie eine Tomate, und der Führerstand, also die Glasscheibe draußen, ist nur noch rot, und Körperteile rutschen die Scheibe runter", erzählt Seidler in drastischer Deutlichkeit. Er selber werde "nie die Hand vergessen", die er auf diese Weise aus nächster Nähe erblicken musste.

Aber auch, wenn es kein ICE, sondern wie bei Enke eine weniger stromlinienförmige Lokomotive war, blieben vom Opfer "nur noch Teile übrig". Seidler bittet deshalb um "Respekt vor den Lokführern, die meist schwerst belastet sind".

Mit der Schuld hieran, wird Enke nicht mehr leben müssen. Die beiden Lokführer hingegen werden Zeit und Glück brauchen, um mit dem Vorfall klarzukommen - und womöglich nie mehr einen Zug steuern.

Hintergrund

Im Schnitt hat jeder Lokführer zweimal in seinem Leben mit einem Suizid fertig zu werden. "Solche Fälle werden bei der Bahn noch nicht genügend aufgearbeitet", kritisiert der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), Claus Weselsky. Im Führerhaus des Zuges im Fall Enke waren zum Zeitpunkt des Unglücks zwei Lokführer, einer von ihnen bekam eine Einweisung in die Strecke. Die Männer seien derzeit beurlaubt, sagte ein Bahnsprecher in Berlin. "Wir geben ihnen die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen." dpa

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