Interview Gunter Hauptmann „Der Ärztemangel steht unmittelbar bevor“

Saarbrücken · Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland spricht über Nachwuchssorgen, Jens Spahn und eine „Kultur des Misstrauens“.

 Gunter Hauptmann praktiziert seit 1990 als Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Saarbrücken. Seit 2005 ist er Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland.

Gunter Hauptmann praktiziert seit 1990 als Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Saarbrücken. Seit 2005 ist er Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland.

Foto: Iris Maria Maurer

Nur eine Armlänge sind wir in Deutschland von einem echten Ärztemangel entfernt, meint Gunter Hauptmann, der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland. Im SZ-Interview warnt Hauptmann die Bundespolitik davor, den Akteuren vor Ort den regionalen Gestaltungsspielraum zu nehmen. In der Hinsicht sieht er den neuen schwarz-roten Koalitionsvertrag kritisch.

Herr Hauptmann, wie bewerten Sie den neuen Koalitionsvertrag aus kassenärztlicher Sicht?

HAUPTMANN Im Koalitionsvertrag findet man viele Themen, die bereits in der vergangenen Legislaturperiode auf der Agenda standen. Zum Beispiel die elektronische Patientenakte, Förderung des hausärztlichen Nachwuchses, Verbesserung der Bedarfsplanung, Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung und einiges mehr. Allerdings sind die Ausführungen im Vertrag eher unkonkret gehalten. Insgesamt zieht sich eine Kultur des Misstrauens wie ein roter Faden gerade gegen diejenigen durch das Programm, die die Versorgung leisten müssen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

HAUPTMANN Nehmen wir die Terminservicestellen, die bei bestimmten Voraussetzungen innerhalb von vier Wochen einen Facharzttermin vermitteln müssen. Im vergangenen Jahr wurde getestet, wie gut diese Stellen erreichbar sind und ob sie funktionieren. Unsere Stelle im Saarland hat gut abgeschnitten. Andere Kassenärztlichen Vereinigungen waren dagegen nicht gut. Prompt steht jetzt im Koalitionsvertrag, dass im Rahmen eines Sofortprogramms die Leistungen und der Zugang zu Versorgung für gesetzlich Versicherte verbessert werden sollen. Und dies über die Terminservicestellen, die von 8 bis 18 Uhr erreichbar sein sollen und auch haus- und kinderärztliche Termine vermitteln sollen.

Sehen Sie denn auch echte Fortschritte, die der Koalitionsvertrag verspricht?

HAUPTMANN So auf Anhieb ehrlich gesagt nicht.

Was hätten Sie sich gewünscht?

HAUPTMANN Ein deutliches Signal wäre gewesen, in bestimmten Bereichen die Budgetierung abzuschaffen, um den Nachwuchs zu fördern und die Ärzte zu motivieren, noch mehr als 52 Stunden in der Woche zu arbeiten.

Budgetierung bedeutet, dass den niedergelassenen Ärzten eine bestimmte Menge an abrechenbaren Leistungen vorgegeben wird. Wie funktioniert das genau im Saarland?

HAUPTMANN Das ist sehr kompliziert und Außenstehenden eigentlich kaum zu erklären. Wir haben eine vertragsärztliche Gebührenordnung, da sind unzählige einzelne abrechenbare Positionen, aber auch Pauschalen und Komplexe enthalten. Am Ende des Quartals zählt der Arzt dann alles zusammen. Da das Geld nicht reicht, um alles zu bezahlen, der Arzt aber trotzdem Planungssicherheit braucht – er muss ja zum Beispiel auch Miete und Personal bezahlen – hat jede Praxis ein Budget in Euro bekommen, auf das sie einen garantierten Anspruch hat, wenn sie die Leistungen auch mindestens in dieser Höhe erbracht hat.

Und reicht dieses Budget in der Regel?

HAUPTMANN Bei den Hausärzten können wir zwischen fünf und zehn Prozent der erbrachten Leistungen nicht bezahlen, bei den Fachärzten sind es sogar 20 bis 25 Prozent. Diese Quoten sind seit vielen Jahren annähernd gleich. Trotzdem arbeiten die Ärzte auch nach Erreichen des Budgets weiter und behandeln ihre Patientinnen und Patienten, obwohl sie jedes Quartal wieder erleben, dass es zu viel Quartal für zu wenig Budget gibt.

Wie ist denn die Versorgungssituation im Saarland im ambulanten Bereich?

HAUPTMANN Der Ärztemangel steht unmittelbar bevor. Im Hausarztbereich haben wir bereits ein deutliches Nachbesetzungsproblem bei frei werdenden Praxen. Inzwischen gibt es im Saarland knapp 38 nicht mehr besetzte Hausarztpraxen. Im fachärztlichen Bereich ist es inzwischen ebenfalls in manchen Fachgebieten schwieriger, Nachfolger zu finden. Ich bin Jahrgang 1956 und gehöre zu der Generation, die bald in Rente geht. Bis zum Anfang der 1990er Jahre konnte man sich frei niederlassen. 1993 kam dann ein Niederlassungsstopp als Maßnahme der Kostendämpfung. Kurz vor diesem Stopp haben sich noch schnell viele Ärzte niedergelassen. Seither dürfen sich junge Ärzte nur noch dann niederlassen, wenn ein anderer Arzt in Rente geht. Und die Ärzte, die sich 1993 alle noch schnell niedergelassen haben, sind nahezu gleich alt und gehen auch alle mehr oder weniger zur gleichen Zeit in Rente. In den kommenden sechs bis acht Jahren trifft das auf mindestens 50 Prozent unserer Ärzte zu.

Hat sich die Zahl der Patienten erhöht?

HAUPTMANN Nicht die Zahl der Patienten steigt. Die Intensität der Versorgung steigt. Nehmen wir zum Beispiel die Hautärzte: Die Zahl der Dermatologen im Saarland ist 1993 festgeschrieben worden. Inzwischen gibt es bei den Hautärzten eine neue Leistung, die im großen Umfang wahrgenommen wird: nämlich die Hautkrebsvorsorge. Gleichzeitig sind weiterhin die Patienten zu versorgen, die wegen Erkrankungen zum Hautarzt gehen. Das heißt, eigentlich bräuchten wir im Saarland zwei bis vier zusätzliche Sitze. Auch bei den Kinderärzten gab es eine ganze Reihe neuer zusätzlicher Vorsorgeuntersuchungen. Eine weitere bekannte Tatsache ist, dass es immer mehr ältere und hochbetagte Menschen gibt, die häufiger zum Doktor müssen. Von Mangel will ich im Moment noch nicht sprechen. Aber es ist schon heute jedem bekannt, wie schwierig es ist, in manchen Fachgebieten einen Termin zu bekommen.

Wann, glauben Sie denn, wird man im Saarland von einem Mangel sprechen müssen?

HAUPTMANN In den nächsten fünf bis zehn Jahren. Bei den Hausärzten wird das Problem zuerst auftreten, bei Fachärzten wenige Jahre später.

Und was macht man dann?

HAUPTMANN Wir müssen versuchen, die frei werdenden Sitze neu zu besetzen, indem wir junge Ärzte für den Beruf des Niedergelassenen Arztes begeistern. Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten: im hausärztlichen Versorgungsbereich werden besonders erfahrene Arzthelferinnen mit einer speziellen Zusatzausbildung zur Arztentlastung z.B. bei Hausbesuchen eingesetzt. Unter „Aufsicht“ des Hausarztes, bei dem die sogenannte VerHa angestellt ist.

Sinkt dadurch nicht die Qualität der Behandlungen?

HAUPTMANN Nein, denn die Behandlung erfolgt nach wie vor durch den Arzt. In anderen Ländern führt der Weg zum Hausarzt immer erst über eine Gemeindeschwester. Und der Hausarzt sagt Ihnen, ob Sie zu einem Facharzt müssen/dürfen. Nur in Deutschland hat der Versicherte über seine „Chipkarte“ nahezu zu allen Ärzten freien Zugang. Und ob das nötig ist, entscheidet der Patient selbst. Bei immer knapper werdenden Mitteln und Ressourcen stellt sich schon die Frage, ob immer nur bei den Leistungserbringern gesteuert werden muss, oder ob nicht auch derjenige, der die Leistung auslöst – sprich der Patient – ebenfalls gesteuert werden muss.

Und wie sollte diese Steuerung dann aussehen?

HAUPTMANN Wir Fachärzte im Saarland hätten nichts gegen ein Hausarzt-System, für das sich der Versicherte freiwillig entscheiden kann. Ein entsprechendes freiwilliges Versicherungsmodell in der gesetzlichen Krankenversicherung mit verschiedenen Tarifen hat die Ärzteschaft in den letzten Jahren immer wieder in die Diskussion gebracht. Dadurch würde die Eigenverantwortung deutlich gestärkt werden.

Aber ganz unabhängig davon: Wie kann man junge Mediziner dazu bringen, sich in unterversorgten Regionen niederzulassen?

HAUPTMANN Bislang haben wir nur eine einzige unterversorgte Region im Saarland: Das ist der Mittelbereich Wadern. In anderen Regionen droht der Ärztemangel bislang nur. Wir tun schon viel zur Niederlassungsförderung, übrigens auch die Landesregierung tut hier viel. Wir fördern die Niederlassungen, wir fördern die Weiterbildung. Wenn ein angehender Facharzt für Allgemeinmedizin den vorgeschriebenen Teil seiner Weiterbildung in einer Praxis macht, gibt es monatlich 4800 Euro Förderung. Dann haben wir den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin im Saarland, den die Ärzteschaft zur Hälfte mitfinanziert. Wir hoffen, dass die Studenten dadurch Lust auf ein Praktikum in einer Hausarztpraxis bekommen und sich dort später vielleicht auch als solcher niederlassen. Bei allen Maßnahmen, die wir einleiten, muss man wissen: Es dauert über zehn Jahre vom Anfang des Studiums bis zum fertigen Facharzt für Allgemeinmedizin.

Würde es helfen, während des Studiums verpflichtende Praktika einzuführen, die angehende Ärzte auch aufs Land führen?

HAUPTMANN Diese verpflichtenden Praktika in der Allgemeinmedizin gibt es ja schon. Aber die sind nicht verpflichtend auf dem Land abzuleisten. Ich halte Zwang auch nicht für sinnvoll. Wir wollen die jungen Leute ja für den Arztberuf begeistern. Und da gibt es ohnehin schon genug Zwänge: etwa die Bedarfsplanung, die Budgetierung, die Fortbildungsverpflichtung, die Bürokratie in den Praxen und vieles mehr.

Die Politik hat in den vergangenen Jahren schon einiges versucht, um die Versorgungssituation dauerhaft zu stabilisieren. Was hat denn zum Beispiel das Versorgungsstärkungsgesetz gebracht, das ja ein ganzes Bündel von Maßnahmen umfasst – etwa die genannten Terminservicestellen?

HAUPTMANN Auf dem Papier sieht das zunächst wirklich gut aus, was da auf den Weg gebracht wurde. Bisher haben die Neuregelungen allerdings in der Wirklichkeit nicht allzu viel gebracht. Am ehesten ist den meisten noch die Einführung der Terminservicestellen in Erinnerung. Und gerade die hätten wir im Saarland nicht gebraucht, weil wir im Saarland das Instrument der „dringlichen“ Überweisung haben und die Ärzte im Saarland untereinander sehr gut vernetzt sind, wenn es um die Organisation eines zeitnahen Termins zwischen den Praxen geht.

Nun ist Jens Spahn für die Gesundheitspolitik in Deutschland zuständig. Ist das der richtige Mann für diesen Ministerposten mit so vielen schwierigen Baustellen?

HAUPTMANN Herr Spahn ist sicherlich jemand, der die Baustellen im Gesundheitswesen sehr gut kennt. Ich habe bei ihm ein gutes Gefühl. Im Koalitionsvertrag sind die drängendsten Themen benannt. Ich bin mir sicher, dass schon bald ein erstes Gesetz kommen wird, dabei hoffe ich auf Augenmaß und nicht auf Populismus. Es ist unstrittig, dass da etwas gemacht werden muss. Daher fordern wir im Saarland: Lasst uns regionalen Gestaltungsspielraum. Nicht alles kann bundeseinheitlich geregelt werden. Das wird den regionalen Unterschieden nicht gerecht. Im Saarland gibt es kurze Wege. Im Saarland wird gemeinsam an Lösungen gearbeitet. Gemeinsam mit der Landespolitik, mit den Krankenhäusern, mit den Krankenkassen und allen anderen am Gesundheitswesen beteiligten.

Was ist die dringendste Baustelle, die als nächstes angegangen werden müsste?

HAUPTMANN Die Notfallambulanzen beziehungsweise Bereitschaftsdienstpraxen an den Kliniken. Wir stellen fest, dass immer mehr Menschen auch tagsüber unter der Woche nicht in die Praxen gehen, sondern in die Krankenhäuser. Dort sind sie aber oft falsch. Eine Klinik-Ambulanz ist nicht zur Behandlung von Erkältungen da. Wir sollten uns überlegen, inwieweit wir analog zum Bereitschaftsdienst, den es ja nur abends sowie an Wochenenden und Feiertagen gibt, auch unter der Woche tagsüber eine „Anlaufstelle“ anbieten können.

 Dr. Gunter Hauptmann (Mitte) beim Interview mit SZ-Redakteur Gerrit Dauelsberg (links) und SZ-Redaktionsmitglied Dennis Langenstein.

Dr. Gunter Hauptmann (Mitte) beim Interview mit SZ-Redakteur Gerrit Dauelsberg (links) und SZ-Redaktionsmitglied Dennis Langenstein.

Foto: Iris Maria Maurer

Wie könnte das funktionieren?

HAUPTMANN Wir haben im Saarland 13 Bereitschaftsdienstpraxen bei den Krankenhäusern angesiedelt, in denen niedergelassene Kollegen außerhalb der Praxis-Öffnungszeiten Dienst haben. Zu diesen Zeiten können Patienten außerdem bei allen möglichen Beschwerden – von Erkältung bis Herzinfarkt – die Rufnummer 116117 anrufen. Dann landen sie bei der Rettungsleitstelle. Der Disponent verbindet sie bei Bedarf mit dem diensthabenden Bereitschaftsarzt um die Ecke. Der nächste Schritt wäre jetzt, über diese Nummern auch tagsüber eine Hilfestellung anzubieten. Wir könnten die Anrufe auf eine Telefonzentrale schalten, wo dann drei bis vier Ärzte sitzen und die Anrufer beraten – etwa, ob sie mit ihren Beschwerden ins Krankenhaus gehen sollten oder besser zu einem Hausarzt. Oder man schickt sie zu einem bestimmten Facharzt und hilft ihnen auch gleich, einen Termin zu machen. Wir können dann viel besser steuern und unnötige Untersuchungen vermeiden.

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