Hilferuf aus der Justiz Dem Rechtsstaat geht das Personal aus

Saarbrücken/Berlin · Verdächtige kommen wegen Überlastung der Justiz frei. Einbrüche bleiben unaufgeklärt, weil Polizisten fehlen. Auch im Saarland gibt es Sorgen.

 Bei der Polizei ist die Personal-Not noch nicht so groß wie in der Justiz, sagen die Experten. Und das Saarland habe bereits gegengesteuert. Unser Bild zeigt die Vereidigung saarländischer Polizeianwärter 2016.

Bei der Polizei ist die Personal-Not noch nicht so groß wie in der Justiz, sagen die Experten. Und das Saarland habe bereits gegengesteuert. Unser Bild zeigt die Vereidigung saarländischer Polizeianwärter 2016.

Foto: Andreas Engel

Ein Verdächtiger sitzt in Untersuchungshaft. Nach ein paar Monaten kommt er frei. Nicht weil sich der Verdacht gegen ihn zerschlagen hätte, sondern weil die Justiz nicht schnell genug damit ist, eine Anklage vorzubereiten – und den Beschuldigten nicht länger festhalten darf. „Pro Jahr kommt das im Moment zwischen 40 und 45 Mal in Deutschland vor“, sagt der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes, Jens Gnisa. Darunter seien auch Kriminelle, denen erhebliche Straftaten vorgeworfen werden. Schuld sei eine Überlastung der Justiz.

Gestern äußerten der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow, und Jens Gnisa bei der Bundespressekonferenz in Berlin ihre Bedenken bezüglich des Personalmangels bei Polizei und Justiz. Malchow zeichnet wie Gnisa ein düsteres Bild der Lage. Beide sprachen von einer „Erosion der inneren Sicherheit“ in Deutschland. Und wie sieht die Lage im Saarland aus?

Dass Schwerverbrecher im Saarland wegen überlanger Verfahrensdauer wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, ist Werner Kockler, dem Vorsitzenden des saarländischen Richterbundes, nicht bekannt. „Trotzdem ist der Zustand der saarländischen Justiz, positiv ausgedrückt, bescheiden“, sagt er. Die saarländische Justiz mit Richtern, Staatsanwälten, Rechtspflegern, Servicekräften und Wachtmeistern sei überlastet. 2015 gab es im Saarland für alle Gerichtszweige 322 Richter- und Staatsanwaltsstellen. Laut dem Justizministerium des Saarlandes gibt es aktuell 316 Richterplanstellen. Bei den Amtsgerichten, dem Landgericht und der Staatsanwaltschaft fehlen laut Kockler derzeit 27 Stellen. Seit 2013 seien neun Richter- und Staatsanwaltsstellen gestrichen worden. Insgesamt sollen 40 Stellen wegfallen. Die Pressesprecherin des Justizminsteriums, zugleich auch Richterin am Verwaltungsgericht, Sirin Özfirat, spricht von einer „ausgewogenen Belastung“ der saarländischen Gerichte. Personalmangel herrsche allerdings in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, beim Landgericht Saarbrücken sowie der Staatsanwaltschaft Saarbrücken. Daher wurden in diesem Jahr neun Proberichter eingestellt, vier weiteren wurde bereits zugesagt.

Der Personalmangel in der saarländischen Justiz hat laut Kockler unter anderem zur Folge, dass das Saarland hinsichtlich der Verfahrensdauer in Strafsachen bundesweit an drittletzter Stelle stehe. „Das Landgericht Saarbrücken ist in Strafsachen das am höchsten belastete Gericht in Deutschland“, sagt der Vorsitzende des saarländischen Richterbundes. Ähnlich sehe es mit der Staatsanwaltschaft Saarbrücken aus. Die schlechte Personalausstattung der saarländischen Justiz führe dazu, dass angezeigte Straftaten vermehrt eingestellt werden, sowie Zivil- und Familienverfahren länger dauern.

In ganz Deutschland kommen Richter und Staatsanwälte nicht mehr mit der Arbeit hinterher. Und der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes Gnisa mahnt, die Lage werde sich in den nächsten Jahren noch verschärfen, weil eine „gigantische Pensionswelle“ auf die Justiz  zurolle. Laut Richterbund gehen in den nächsten 15 Jahren etwa 40 Prozent aller Richter und Staatsanwälte in Bund und Ländern in den Ruhestand. In den neuen Ländern seien es sogar mehr als 60 Prozent. Nachwuchs zu finden, sei schwierig. Ganz besonders im Saarland. Denn: „Das Saarland mit seiner mit deutlichem Abstand schlechtesten und sogar evident verfassungswidrigen Eingangsbesoldung für Richter und Staatsanwälte (rund 800 Euro weniger als in Hamburg oder Bayern) wird hierbei zweifelsohne der Verlierer sein“, gibt Kockler zu Bedenken. Ein ganz anderes Bild zeichnet Özfirat: „Wir haben derzeit keine Probleme, qualifizierten Nachwuchs einzustellen“. Es seien bereits weitere 38 neue Bewerbungen von hinreichend qualifizierten Volljuristen für Proberichterstellen eingegangen.

Ihre Einstellung wäre ein Glücksfall, denn Werner Kockler rechnet mit einer erheblichen Mehrbelastung der Richter durch das beschlossene Strukturreformgesetz der Amtsgerichte (AG). Künftig sollen die Amtsgerichte nur noch für ein bestimmtes Rechtsgebiet zuständig sein. So sollen beispielsweise Familien- und Zivilverfahren des AG St. Ingbert nur noch beim AG Homburg und Strafsachen des AG Homburg nur noch in St. Ingbert verhandelt werden. Neben aufwendigen Aktentransporten und Neuregistrierungen müssen sich Richter in einen komplett neuen Aktenbestand einlesen.

Ganz so schlimm trifft es die Polizei nicht. Doch auch hier fehlt Personal. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) rechnet für das gesamte Bundesgebiet vor, bis 2021 schieden etwa 44 000 Beamte aus dem Dienst aus. Das sei fast jeder Fünfte der rund 215 000 Vollzugsbeamten in Deutschland. Das Problem ist altbekannt. Polizeigewerkschafter klagen derart lange und derart laut darüber, dass nach Jahren des Stellenabbaus inzwischen eine Umkehr eingeleitet ist. Es wurde schon Personal aufgestockt, mehr soll kommen. 15 000 Stellen extra versprechen Union und SPD in ihren Programmen für die Bundestagswahl.

Im Saarland waren laut dem Ministerium für Inneres, Bauen und Sport im Jahr 2016 2713 Polizeivollzugsbeamte im Dienst. In diesem Jahr wurden 120 Beamte eingestellt. „Der Personalbestand soll ab 2021 stabil gehalten werden“, sagt der Ministeriumssprecher Markus Tröster. Der Einsatz der Assistenzkräfte (Polizeilicher Ordnungsdienst, Mitarbeiter im Ermittlungs- und Verwaltungsdienst) habe sich bewährt und soll beibehalten werden.

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