"Das war ein Massaker"

Paris/Toulouse. Entsetzen, Trauer, Ratlosigkeit: Nach der tödlichen Schießerei in der jüdischen Ozar Hatorah-Schule in Toulouse im Südwesten Frankreichs stand das Land gestern unter Schock. Besorgte Eltern sammelten sich vor dem Schulgebäude, Kinder wurden einzeln herausgeführt und in die Obhut von Psychologen gebracht

Paris/Toulouse. Entsetzen, Trauer, Ratlosigkeit: Nach der tödlichen Schießerei in der jüdischen Ozar Hatorah-Schule in Toulouse im Südwesten Frankreichs stand das Land gestern unter Schock. Besorgte Eltern sammelten sich vor dem Schulgebäude, Kinder wurden einzeln herausgeführt und in die Obhut von Psychologen gebracht.Kurz nach acht Uhr morgens war ein Mann - durch einen Motorradhelm auf dem Kopf nicht identifizierbar - auf einem Motorroller vorgefahren und hatte mit einer Pistole auf eine Gruppe aus Eltern und Schülern gezielt und diese mit einer zweiten Waffe um sich schießend sogar bis ins Innere der Schule verfolgt. Ein 30-jähriger franko-israelischer Religionslehrer und seine beiden drei und sechs Jahre alten Söhne sowie ein zehnjähriges Mädchen starben. Weitere Kinder und Jugendliche wurden teils schwer verletzt, unter ihnen die Tochter des Schuldirektors.

"Er hat auf alles geschossen, was er vor sich hatte, Kinder und Erwachsene", sagte der Pariser Staatsanwalt Michel Valet. Unerkannt brauste der Todesschütze auf seinem Roller davon, viele Fragen zurücklassend - vor allem die nach dem Warum. Handelt es sich um eine antisemitisch motivierte Tat, einen Terrorakt, die Handlung eines wahnsinnigen Einzeltäters? "Das war keine Schießerei, das war ein Massaker", erklärte Marc Sztulman, Generalsekretär des Rates der jüdischen Institutionen in Frankreich (Crif). Die Schule sei entweder als republikanisches Symbol angegriffen worden oder als jüdische Einrichtung.

Die Pariser Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen des Verdachts auf Terrorismus auf. Es wurde geprüft, ob es einen Zusammenhang mit zwei tödlichen Attentaten auf Fallschirmjäger in der vergangenen Woche ebenfalls in Toulouse und der 50 Kilometer entfernten Stadt Montauban gibt. Dabei waren insgesamt drei junge Männer nordafrikanischer Herkunft getötet worden; ein von der französischen Karibikinsel Guadeloupe stammender Mann schwebt noch in Lebensgefahr. In beiden Fällen kam und floh der Täter, offenbar ein ebenso geübter wie kaltblütiger Schütze, auf einem Motoroller. Aus Ermittlerkreisen verlautete gestern schließlich, dass eine der beiden Waffen, die der Todesschütze benutzt hatte, dasselbe Kaliber hatte wie die Tatwaffe der beiden Soldaten-Attentate.

Laut Medien handelte es sich auch um denselben, als gestohlen gemeldeten Motorroller. Frankreichs Innenminister Claude Guéant räumte "einige Ähnlichkeiten" ein. Es sei aber noch zu früh, eine eindeutige Querverbindung herzustellen.

Am heutigen Dienstag findet in allen französischen Schulen eine Schweigeminute statt. Das erklärte Präsident Nicolas Sarkozy, der einen Wahlkampf-Termin absagte und noch am Vormittag in Toulouse den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sein Bedauern über diese "nationale Tragödie" aussprach. Mit mehr als 500 000 Mitgliedern lebt in Frankreich die größte jüdische Gemeinde in Westeuropa; allein in Toulouse sind es rund 20 000. Der Sprecher der Sozialisten, Benoît Hamon, erklärte, seine Partei werde den Wahlkampf vorübergehend aussetzen, wobei auch der sozialistische Präsidentschaftsbewerber François Hollande am Nachmittag "aus Solidarität" nach Toulouse fuhr.

Auch die Vertreter anderer politischer Strömungen erklärten ihre Betroffenheit und Anteilnahme. Rechtspopulistin Marine Le Pen setzte eine Wahlkampf-Debatte aus. Ein Sprecher des israelischen Außenministeriums sagte, Israel sei schockiert und vertraue auf die französischen Behörden, das Drama schnell aufzuklären. Der Bürgermeister von Toulouse sagte geplante Karnevalsfeiern ab. Zugleich wurde auch der Schutz anderer religiöser Einrichtungen im ganzen Land, vor allem in Südfrankreich, verstärkt - vorsichtshalber auch der Koranschulen. Für jüdische Einrichtungen wie Schulen, Synagogen, Kinderkrippen oder Vereine bestehen seit 2005 verstärkte Sicherheits- und Alarmvorkehrungen, nachdem diese in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt Ziel von Anschlägen wurden.

Im September 2009 gab es einen Brandanschlag auf eine jüdische Schule in Marseille, im November 2003 und im Dezember 2001 auf Schulen in Pariser Vororten. Mehrmals, wie im April 2007 und im Juli 2003, wurden Rabbiner gewalttätig angegriffen und im August 1982 starben bei einem Attentat auf ein Restaurant im Pariser Marais-Viertel sechs Menschen.

Ob sich auch der gestrige Anschlag in diese Reihe judenfeindlicher oder rassistischer Akte einfügt, ob es Netzwerkverbindungen zu terroristischen Gruppen im In- und Ausland gibt - mit solchen Einordnungen hielten sich die Ermittler gestern noch zurück.

Meinung

Ein gefährliches Klima

Von SZ-MitarbeiterinBirgit Holzer

Ob der Attentäter von Toulouse aus Juden- oder Rassenhass handelte, ist unklar. In jedem Fall drängt sich ein Thema in den Präsidentschaftswahlkampf: der schwierige Umgang Frankreichs mit Minderheiten. Bislang wettert Rechtspopulistin Marine Le Pen erfolgreich gegen Ausländer und Muslime. Unter dem Druck zäher Umfragewerte eifert ihr Nicolas Sarkozy nach, der Einwanderung begrenzen will. Das Attentat stellt die Frage nach dem sozialen Klima, in dem menschenverachtendes Gedankengut wächst. Das Klima in Frankreich ist für Menschen, die sich als Sündenböcke eignen, nicht günstig. Auch weil Le Pen und Sarkozy eine Kultur der Ausgrenzung befördern.

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