Das Terror-Netzwerk eines „normalen Typen“

Manchester · Die Ermittler sind sicher: Der Attentäter von Manchester muss Helfer gehabt haben. Nun rückt seine Familie ins Visier. Und die USA.

Es sind so viele Geschichten. Von Helden und Helfern, von Todesopfern und Terror, von Polizeiarbeit und Politik. Sie alle werden derzeit auf der Insel erzählt und überwältigen die Briten, die versuchen, das Unbegreifliche zu begreifen. 22 Menschen verloren bei dem Terroranschlag am Montagabend in Manchester ihr Leben, darunter zahlreiche Kinder und Teenager. Noch immer laufen die Ermittlungen zu den Hintergründen der Tat. Wer war Salman Abedi? Wer war jener Mann, der sich nach dem Popkonzert von US-Teeniestar Ariana Grande im Foyer in die Luft sprengte?

Die Ermittler versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen. Mittlerweile gehen sie davon aus, dass Abedi Teil eines Netzwerkes war. Umso empörter zeigten sich die Behörden über undichte Stellen im Ausland. So haben US-Medien bereits zum zweiten Mal sensible Informationen veröffentlicht, bevor die Sicherheitsdienste im Königreich diese freigegeben oder sich dazu geäußert hätten. Die Indiskretionen belasten das Verhältnis der beiden Länder - ausgerechnet. Denn stets rühmt vor allem Großbritannien die "besondere Beziehung" zum US-Partner. Doch der Vertrauensbruch wiegt schwer.

Erst wurde der Name des Attentäters deutlich früher veröffentlicht, als dies die Ermittler aufgrund der laufenden Untersuchungen wünschten. Nun wurden forensische Aufnahmen geleakt, wofür die Regierung in London sowie Politiker und Beamte in Manchester die US-Geheimdienste scharf kritisierten. In der "New York Times" sind erste Bilder vom Tatort zu sehen, darunter Fotos eines zerfetzten blauen Rucksacks und eines Zünders. Als Konsequenz will die Polizei nun keine Informationen über den Anschlag mehr mit den USA teilen. US-Präsident Donald Trump kündigte noch gestern an, die Verantwortlichen für die Weitergabe interner Ermittlungen zu "verfolgen".

Es herrscht Nervosität: Nach zehn Jahren rief Großbritannien erstmals wieder die höchste Terrorwarnstufe aus. Danach könnte ein weiterer Anschlag unmittelbar bevorstehen. Fast 1000 bewaffnete Soldaten werden eingesetzt, um etwa die Ordnungshüter am Regierungssitz in der Downing Street, zu unterstützen. Auf der Suche nach möglichen Komplizen gab es mehrere Razzien. Bis gestern Abend befanden sich acht Verdächtige - in England und Nordafrika - in Polizeigewahrsam, die offenbar in Verbindung mit Abedi stehen.

Über den 22-jährigen mutmaßlichen Attentäter kommen dabei immer mehr Details ans Licht. Abedi, dessen Eltern vor dem Gaddafi-Regime aus Libyen ins Königreich geflüchtet sind, wurde 1994 in Manchester geboren, ging dort zur Schule und lebte in einem typischen roten Backsteinhaus mit Vorgarten. Sein Wirtschaftsstudium an der Salford-Universität in Manchester hat der junge Mann, der zwei Brüder und eine Schwester hatte, offenbar abgebrochen.

Von Bekannten wurde er als "zurückhaltend" und im Umgang als "respektvoll" beschrieben. Will man den etlichen Berichten glauben, war er ein unauffälliger, ruhiger Mann, "ein normaler Typ". Der Vater, Ramadan Abedi, der sich zurzeit in Tripoli aufhält, gab am Mittwoch ein Interview, in dem er seinen Sohn als "unschuldig" bezeichnete, bevor er selbst von der libyschen Polizei festgenommen wurde. Genauso wie sein anderer Sohn Hachem Abedi. Nach eigenen Angaben soll er dem IS angehören. Innenministerin Amber Rudd zufolge sei Salman Abedi bereits in der Vergangenheit ins Visier der Behörden gerückt. Offenbar wurde er aber nicht als Hochsicherheitsrisiko betrachtet. Dabei kehrte der Brite erst vier Tage vor dem Anschlag aus Libyen nach England heim. Während seiner Rückreise verbrachte er auch kurze Zeit im Transitbereich des Düsseldorfer Flughafens. Kontakte soll er hier nicht gehabt haben. Laut Frankreichs Innenministers Gérard Collomb sei Abedi auch nach Syrien gereist.

Eine muslimische Stiftung warf den britischen Sicherheitsbehörden unterdessen vor, Warnungen vor Abedi ignoriert zu haben. Vor zwei Jahren habe ein Aktivist der muslimischen Gemeinde die Anti-Terror-Behörde über extremistische Äußerungen informiert. Auch Familienmitglieder hätten seine Radikalisierung gemeldet.

In Manchester bestimmen Trauer und Trotz die Tage nach dem Anschlag. Nachdem am Dienstag erst zwei der Opfer bekannt waren - eine 18-jährige Studentin sowie ein achtjähriges Mädchen - veröffentlichten die Behörden weitere Details. Die 15-jährige Olivia Campbell, deren Mutter voller Verzweiflung via sozialer Medien nach ihrer Tochter suchte, musste ebenso ihr Leben lassen wie die 14-jährige Nell Jones, eine Polizistin und ein polnisches Pärchen aus York, das seine Töchter abholen wollte. Mit einer Schweigeminute gedachten die Briten gestern der Opfer und Königin Elizabeth II. besuchte einige der verletzten Kinder im Krankenhaus. Im Zentrum der Stadt legten Trauernde Blumen nieder, zündeten Kerzen an oder ließen Luftballons steigen. "Manchester wird zusammenstehen - Eine Liebe für alle", schrieb jemand mit Kreide auf den Boden - eine starke Reaktion auf den Terror.

Zum Thema:

Erneut Großalarm nach Paket-Fund In Manchester hat es gestern erneut einen Großalarm gegeben. Ursache sei ein verdächtiges Paket gewesen, meldete die Polizei der nordenglischen Stadt. Zu dem Einsatz in der Linby Street im Südwesten der Stadt waren am Vormittag die Armee und die Polizei angerückt. Anwohner wurden aufgefordert, die Gegend sofort zu verlassen. Mehrere Straßen wurden gesperrt. Bombenentschärfer gaben ´nach kurzer Zeit Entwarnung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort