Das Tabu

Zha Jianguo wollte es sich noch einmal überlegen. „Ich melde mich“, hatte er gesagt.

Gemeldet hat er sich nicht mehr. Chen Tianshi meinte, er schreibe eine E-Mail. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Er konnte nicht. Durfte es nicht, weil er bereits unter Hausarrest stand. Wie Dutzende Chinesen, die ihre Erinnerung nicht verbannen wollen. Die darüber sprechen wollen. Über diese blutige Nacht in ihrer Stadt, als sie noch Studenten waren. An die Stunden, als die Panzer kamen und die Lastwagen; an die Menschen, denen Soldaten Maschinenpistolen auf die Köpfe richteten und abdrückten. An die unbeschwerte, angespannte, fröhliche wie bedenkliche Zeit, als so viel möglich schien und am Ende doch alles darniederlag.

Verordnetes Vergessen

Sie waren auf den Tiananmen geströmt, hatten wochenlang dort ausgeharrt, auf diesem Platz des Himmlischen Friedens mitten in Peking. Sie hatten bessere Wohnheime gefordert, hatten von Mitbestimmung gesprochen und von Demokratie. Die Tage des Friedens aber wandelten sich in Stunden des Krieges. Die Armee metzelte fast 3000 Menschen nieder. Die genauen Zahlen sind bis heute ein Staatsgeheimnis.

Mit dem Niedermetzeln kam die kollektive Amnesie. 25 Jahre ist das her. 25 Jahre verordnetes Vergessen dieses "Zwischenfalls" am 4. Juni 1989. Nur dieses Wort hat überlebt. Es will nicht heraus aus den Mündern der Menschen. Sie schlucken es herunter, setzen ein gequältes Gesicht auf, als hätten sie gerade etwas Widerliches zu sich genommen. Dann und wann spucken sie es aus, mit einem Hüsteln hinterher, "oh, zwinge mich nicht, das auszusprechen." Das Monströse passt nicht in die Welt des neuen China. Eines Landes, das es ohne diesen 4. Juni so gar nicht gäbe. Mit einer neuen Wahrheit, erschaffen von der Propaganda der Kommunistischen Partei, die sich in den Wochen vor dem Massaker an ihre Macht geklammert hatte und diese Macht noch heute mit scharfen Krallen verteidigt. Und mit einer ausgeklügelten Abmachung. "Werdet reich! Aber haltet den Mund."

Das Volk befolgt den in die Hirne eingepflanzten Vertrag. Vor dem willkürlichen, dem unbarmherzigen, dem Atemluft raubenden China verschließen viele die Augen. Sie nehmen den politischen Würgegriff in Kauf, damit die wirtschaftliche Öffnung gedeihen kann. Die Partei hat virtuos eine Kammer des Schweigens geschaffen. Jeder, der nur den Kopf herauszustrecken wagt, bekommt darauf einen dumpfen Schlag. Selbst ausländische Journalisten werden kurz vor dem Tag des großen Tabus unter Druck gesetzt. Manche bittet die Polizei zum "Gespräch". Andere werden zum "Tee trinken" geladen. "Nein, nicht wegen..." Sie stocken, sagen nur stotternd "1989". "Wir wollen Sie einfach nur kennenlernen", behaupten sie und lächeln.

Auf die Straßen schickt die Regierung derweil Hunderte von Polizisten. "Nein, nicht wegen..." Seit den Festnahmen im April und Mai wird nicht einmal ein Finger aus der dunklen Kammer des Schweigens gestreckt. Vor allem die Jugend weiß kaum etwas von den Ereignissen, und die, die es wissen, sprechen nicht darüber. Es scheint ein aus der Geschichte gefallenes Datum.

"Was 1989 geschehen ist?", fällt plötzlich in einer Diskussion, die sich um etwas ganz anderes drehte. Die junge Frau war damals gerade drei geworden. Sie weiß, dass 1989 die Berliner Mauer fiel. Was im selben Jahr in ihrem eigenen Land passierte, auf dem größten Platz der Welt, das weiß sie nicht. Im Gespräch mit einer Ausländerin auf die Fährte gebracht, fängt sie an zu suchen. Umgeht die chinesische Brandmauer, die so viele Internetseiten sperrt, und findet Bilder, Sprüche, Filme. "Nein, das kann nicht sein." Sie fragt ihre Mutter. "Vergiss es. Sofort!", flüstert diese. "Es ist doch 25 Jahre her. Warum soll es noch interessant sein?", fragt eine andere, die damals, mit sieben, gar nicht verstand, was vor sich ging und heute meint: "Es war doch eine Minderheit. Was ist verwerflich daran, wenn die Armee auf das eigene Volk schießt? Sie musste doch die Rechte der Mehrheit verteidigen."

Auf dem Tiananmen erinnert heute nichts an die Ereignisse von damals. Polizisten laufen ihre Runden, niemand kommt auf die riesige Fläche, ohne abgetastet zu werden. Die Menschen halten Handys hoch, formen das Victory-Zeichen. Der Tod, er ist vergessen.

"Was damals passierte, verstand ich schon damals nicht. Das verstehe ich auch heute nicht", erzählt Wang Yuhai. Am 2. Juni 1989 war der heute 50-Jährige in die Hauptstadt gekommen. War geflohen aus seinem Dorf. Es war der Tag, als die ersten Soldaten in die Stadt marschierten, als ein Panzer zwei Radfahrer zermalmte. Wang, ohne Radio und Fernsehen aufgewachsen, erlebte das Geschehen um sich herum als Volksfest. "Ich dachte, in Peking gehe es immer so zu, Studenten, unglaublich viele Menschen. Sie rufen etwas gegen die Korruption, singen Lieder." Die "Party" aber bekam "ungebetene Gäste": Soldaten. "Ich lief um mein Leben. Blutüberströmte Menschen waren da, ein Chaos aus Angst." Am 5. Juni 1989, dem Tag, als die Massenverhaftungen begannen, packte der Bauer seine Tasche, nichts wie weg. Vor sieben Jahren ist er zurückgekommen. "Was ist eigentlich damals geschehen?", fragt er.

Abschreckendes Beispiel

Es war eine Neuvermessung des Landes. "Das Vertrauen war mit dem ersten Schuss weg. Es kommt nicht mehr zurück. Das Vertrauen in die Gemeinschaft, in die Partei." Zhang Lifan spricht leise. Über die Jahre hinweg hat der Historiker gelernt, welche Kritik zulässig ist und in welchen Dosen. 1989 war er Vermittler zwischen Regierung und Studenten. Er konnte nichts ausrichten. Heute sitzt auch ihm die Angst in den Knochen: "Jeden Tag können sie einen holen." Zhang versucht zu erklären, was nicht zu erklären ist, den staatlichen Mord am Volk.

"Das drastische Vorgehen der Partei geht zum Teil auf die chinesische Kultur zurück, auf das sogenannte Xiao-Prinzip", sagt er. "Xiao" ist die Kindespflicht, die Achtung, das Gehorsam vor den Eltern. Vieles in China ist darauf gebaut. "Ältere haben immer Recht, Jüngere machen ihre Sache immer schlecht, so die Meinung." Demnach habe die Regierung gar nicht erst begriffen, was die Studenten wollten und warum sie auf die Forderungen der Jugend hätte eingehen sollen. Zhang redete "gegen die Wand". Er versuchte, die Partei-Funktionäre zu überzeugen, einen Schritt auf die Menschen zuzugehen. Vergebens. Am 4. Juni hörte er zu Hause die Schüsse. "Von da an standen die Reformen nur noch auf einem Bein." Am 5. Juni begannen die Befragungen, auch Zhang hatte den Koffer fürs Gefängnis gepackt. Er blieb verschont und schwor sich, die "tiefe Erinnerung" weiterzutragen. Kein einfaches Unterfangen im China nach 1989. "Die Gewinner haben alles gewonnen, die Verlierer alles verloren." Das Land hatte den Demokratie-Test nicht bestanden. Mit seinem Vorgehen aber hat es ein abschreckendes Beispiel geliefert für all die Staaten, deren kommunistisches Konstrukt nach und nach zerfiel. Die osteuropäischen Länder entschieden sich gegen das blutige Beispiel aus Peking.

Eine "Frage der Moral" nennt es Zhang. Das Wort "Moral" benutzt auch Mo Zhixu. "Jeder, der moralische Werte besitzt, muss an den Tag erinnern", schreibt der festgehaltene Schriftsteller in einer Mail. Immer wieder kommt er unter Hausarrest, in diesem Jahr ist es bereits das dritte Mal. Es sind stets ein paar Tage, nun sind es Wochen, bis zum 10. Juni. Aber Mo schreibt weiter. Wie auch Zha Jianguo und Chen Tianshi, Autoren, Aktivisten. Sie tun es für sich. Und für die Toten des 4. Juni 1989.

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HintergrundWährend eines Treffens in Saarbrücken mit dem damaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine kurz nach dem Massaker von Peking schockierte Egon Krenz, seinerzeit der zweite Mann der DDR, viele Landsleute in Ost und West. Seine Einschätzung, wonach etwas getan worden sei, "um die Ordnung wiederherzustellen", löste große Ängste aus, dass die DDR-Führung ähnlich brutal gegen Demonstranten vorgehen könnte. DDR-Oppositionelle deuteten diese und ähnliche Äußerungen als Warnung, es nicht zu weit zu treiben. In den Tagen danach wurde dann die Losung geboren, die alle oppositionellen Aktivitäten bis zum Mauerfall bestimmen sollte: "Keine Gewalt!" red/epd

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