Das stille Leiden der Alten

Berlin. Die vergangenen eineinhalb Jahre waren für die 88-Jährige eine persönliche Katastrophe. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes litt sie an Depressionen. Sie aß zu wenig, verlor Gewicht und erlitt bei einem Sturz in ihrem Schlafzimmer einen Oberschenkelhalsbruch. Im Krankenhaus zog sie sich ein Geschwür wegen Wundliegens zu. Sie kam ins Pflegeheim - dort ging die Misere weiter

 Demenzkranke Menschen brauchen besondere Betreuung. Daran mangelt es immer noch häufig in Deutschland. Fotos: Charisius/dpa

Demenzkranke Menschen brauchen besondere Betreuung. Daran mangelt es immer noch häufig in Deutschland. Fotos: Charisius/dpa

Berlin. Die vergangenen eineinhalb Jahre waren für die 88-Jährige eine persönliche Katastrophe. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes litt sie an Depressionen. Sie aß zu wenig, verlor Gewicht und erlitt bei einem Sturz in ihrem Schlafzimmer einen Oberschenkelhalsbruch. Im Krankenhaus zog sie sich ein Geschwür wegen Wundliegens zu. Sie kam ins Pflegeheim - dort ging die Misere weiter.Prüfer der Krankenkassen stellten fest, dass die Pfleger zwar ihr Gewicht standardmäßig maßen - aber das Heim tat zu wenig dafür, dass die Dame genug aß. Die Versorgung ihrer Wunde wegen des Druckgeschwürs war auch nicht optimal.

Jahrzehntelang nahm kaum jemand Notiz von solchen Missständen. Vor drei Jahren begannen die Krankenkassen mit systematischen Prüfungen. Immerhin bei 62 000 von gut 700 000 Heimbewohnern guckten die Prüfer genauer hin. Zwar klagt die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung, vielfach prüfe der Medizinische Dienst der Kassen nur die frisierten Dokumentationen der Heime. Doch die Kassen beteuern, auch auf die tatsächlichen Zustände zu achten.

In vielen Fällen waren die Prüfer durchaus zufrieden. "Die Qualität hat sich weiter verbessert", sagt der Geschäftsführer des Medizinischen Diensts, Peter Pick. In den zentralen Bereichen wie Hilfe beim Essen und Trinken, Schutz vor dem gefährlichen Wundliegen oder Zuwendung für die immer zahlreicheren Demenzkranken gibt es aber Anteile von 20 bis 40 Prozent der besonders Betroffenen, die nicht gut genug gepflegt werden. Hunderttausende Menschen leiden darunter. "In diesen Fällen besteht akuter Handlungsbedarf", sagt Pick.

Erschreckend erscheint auch die Zahl von rund 140 000 Menschen, die mit Gittern, Gurten oder anderen Barrieren daran gehindert werden, ihr Bett oder ihren Rollstuhl zu verlassen. Bei 14 000 von ihnen fehle die richterliche Genehmigung.

Hinter den Zahlen stecken viele verschiedene Fälle. Da ist zum Beispiel der Berliner Fall einer Hochbetagten, die als Oberstudienrätin genug zur Seite gelegt hatte, um in ein durchaus luxuriöses Heim zu ziehen, als ihre Demenz dies nötig erscheinen ließ. Auch dort konnte sie aber nicht rund um die Uhr beobachtet werden - am Ende stimmten ihre erwachsenen Kinder zu, dass das Heim zu freiheitsentziehenden Maßnahmen überging.

Die "Demenzrepublik"

Politik und Gesellschaft haben mit einem enormen Problem zu tun. Die Demenzrepublik Deutschland - nach Ansicht von Forschern der Uni Bremen kommt sie mit einer Verdoppelung der Zahl der Betroffenen auf 2,5 Millionen innerhalb der kommenden Jahrzehnte. "Man muss ein hohes fachliches Wissen haben, um auf die Signale der Demenzkranken angemessen reagieren zu können", sagt der Pflegeexperte des Medizinischen Diensts der Kassen, Jürgen Brüggemann. So können Demenzkranke über ihre Schmerzen oder Ängste oft nichts sagen. "Man muss es anhand von Gestik oder Mimik herausfinden." Trinkt eine Betroffene nichts, so kann es etwa daran liegen, dass sie wegen einer Erinnerung nur noch eine bestimmte Porzellantasse an die Lippen lässt - werden die Zeichen aus der Vergangenheit nicht berücksichtigt, gilt sie schnell als grundsätzliche Nichttrinkerin.

Was tun? Die Politik tut sich schwer. Schon Anfang 2009 legten Regierungsberater ein Konzept vor, um Menschen mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit besser versorgen zu können. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat den entsprechenden Beirat nun wieder eingesetzt, um die Vorschläge weiter ausarbeiten zu lassen. Doch in der Pflegebranche findet sich praktisch niemand, der daran glaubt, dass daraus noch in dieser Wahlperiode etwas wird. Schließlich würde mehr Hilfe für Demente auch mehr Geld und Zeit nötig machen.

Zunächst fordert Bahr mehr ausländische Pflegekräfte. "Wir werden auch in der Pflege Zuwanderung von qualifizierten Kräften aus dem Ausland brauchen", so der Minister in der "Financial Times Deutschland". Kritiker fordern, Ansehen und Bezahlung von Pflegern zu steigern - und somit auch die Menschlichkeit in den Heimen.

Meinung

Vom Recht auf Fürsorge

Von SZ-RedakteurinIris Neu

 Demenzkranke Menschen brauchen eine ganz besondere Betreuung. Aber daran mangelt es immer noch vielerorts in Deutschland. Fotos: Charisius/dpa

Demenzkranke Menschen brauchen eine ganz besondere Betreuung. Aber daran mangelt es immer noch vielerorts in Deutschland. Fotos: Charisius/dpa

Die Qualität der Pflege älterer Menschen ist in Deutschland besser geworden, heißt es in der jüngsten Untersuchung. Klingt vordergründig einigermaßen positiv. Übertrüge man den Befund nun sinngemäß auf den Nachwuchs, hieße das etwa: "Die Qualität der Fürsorge für Kinder ist in Deutschland besser geworden." Was vermutlich einen Aufschrei zur Folge hätte und die bange Frage aufwerfen würde, in welchem Staat wir eigentlich leben. Zu Recht. Müsste sich nicht ebenso die Frage stellen, in welchem Staat wir leben, wenn Menschen dort gegen Lebensende eine schlechtere Zuwendung hinnehmen müssen als zu Beginn ihres Lebens? Die Pflege, und das ist der Skandal, verbessert sich "allmählich". Selbst unter dem Druck des demografischen Wandels scheint das Verdrängen des (eigenen) Alterns mit seinen möglichen Beschwerlichkeiten und Leiden in unserer Gesellschaft übermächtig. Das Recht auf Lebensqualität ist aber keineswegs ein Privileg der Jüngeren. Es steht gleichermaßen gebrechlichen und dementen Menschen zu. Dafür aufzukommen und zu sorgen, darf in einem Staat wie dem unsrigen kein Thema sein.

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