Das russische Volk giert nach Wahrheit

Nischni Nowgorod. Er wollte nur schauen. Ganz kurz. Wissen, wer da kommt. Wer so denkt wie er selbst, wer so ist wie er. Ein bisschen zumindest. "Nicht gleichgültig, neugierig, am Geschehen im Land und in der Welt interessiert

Nischni Nowgorod. Er wollte nur schauen. Ganz kurz. Wissen, wer da kommt. Wer so denkt wie er selbst, wer so ist wie er. Ein bisschen zumindest. "Nicht gleichgültig, neugierig, am Geschehen im Land und in der Welt interessiert." Igor Sobkin steht genau dort, wo noch vor wenigen Tagen die Polizei den Platz sicherte, wo die Leute aus allen Ecken hinströmten, aus dem Bus stiegen, die Transparente ausrollten. Mitten in Nischni Nowgorod, rund 420 Kilometer östlich von Moskau entfernt. Sobkin war fassungslos. Es waren erst zehn junge Leute da, dann kamen noch einmal so viele. Am Ende waren es 2500 Menschen. Sobkin wiederholt die Zahl, als glaube er selbst nicht, was er da sagt."2500 in Nischni Nowgorod, mitten im Zentrum!" Mit Plakaten und weißen Bändchen - gegen die Regierung, für ehrliche Wahlen im Land. So viele gingen in diesem altrussischen Handelsstädtchen an der Wolga schon lange nicht mehr auf die Straße. Und nicht nur dort. In Moskau versammelten sich an die 120 000 Menschen, in Wladiwostok stellten sich in eisiger Kälte 500 Menschen auf den zentralen Platz.

Die Proteststimmung hat das Land erfasst. Zum ersten Mal seit 20 Jahren. Die Demonstrationen, auch wenn lediglich knapp zwei Prozent der Bevölkerung sich in den Städten versammeln, sind vor allem Ausdruck eines Wandels in den Köpfen der Russen. Noch ist Wladimir Putin der beliebteste Politiker im Land, hält die Demonstranten für "gesetzlose Affenmenschen" und eine "ziellose Minderheit". Damit bringt er immer mehr Menschen gegen sich auf.

Eine Revolution wie im arabischen Raum ist das nicht in Russland. Das streben die Demonstranten auch gar nicht an. Wenn aber Cafés sich in Debattierclubs verwandeln und in der Schlange im Lebensmittelladen das Hauptthema die nächste Demo ist, spricht das für bewegte Zeiten in einem Land, dessen Bevölkerung jegliche politische Teilhabe jahrelang abgesprochen worden war.

Igor Sobkin ist 35 Jahre alt, IT-Spezialist und einer, den das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum für den Durchschnittsprotestler hält. Ein Mann zwischen 25 und 39 Jahren mit Hochschulabschluss und Auto, der einen Blog führt, sich im Internet informiert, bei der Parlamentswahl für die liberale Oppositionspartei "Jabloko" votiert hat und bei der Präsidentschaftswahl im März "eindeutig gegen" Ex-Präsident Wladimir Putin stimmen will, der dort nach seiner Zeit als Premier erneut kandidiert. Nun sind die "kleinen Netzhamster", wie Putin die Demonstranten abschätzig nennt, in den Offline-Bereich getreten - und waren überrascht, wie viele es gibt.

Ermutigt durch die Proteste der Jungen, die mit ihren iPhones die Wahlmanipulationen filmten und über ihr iPad die verwackelten Bilder auf ihren Blog hochluden, haben die Älteren nachgezogen. Es sind nicht die üblichen Demonstranten, die in der Kälte ausharren, nicht die Mütterchen mit den Chodorkowski-Plakaten, nicht die jungen linken Rebellen, die die russische Sonderpolizei "Omon" in die beigen Kleintransporter prügelte. Es sind die Gewinner des Wandels, die beruflich erfolgreich sind, Sprachen sprechen, in der Welt herumgekommen sind. "Viel zu lange haben wir uns wie Bauern im Schach behandeln lassen", sagt Igor Sobkin. Es ist ein grundsätzlicher Protest - gegen die politische Bevormundung.

Der Weg hierhin war lang. Russland ist historisch betrachtet immer ein Land mit einem starken Führer gewesen. Nicht zuletzt deshalb ist der Ruf nach einem solchen auch heutzutage noch laut. Für eine große Idee, wie die Sowjetunion es war, kam es auf den Einzelnen nicht an. Die Angst, gegen die Obrigkeit aufzubegehren, ist bis heute in den Köpfen verankert. Der "homo sovieticus" hat auch den Zerfall der Sowjetunion überlebt. Das denkende Volk ist der Elite bis heute suspekt. Es gilt, es in Schach zu halten: mit sozialen Versprechungen. Doch das Arrangement, auf dem die moderne russische Politik gebaut ist, trägt nicht mehr. "Wir haben verstanden, dass die gesamte moderne Geschichte Russlands verlogen ist. Wir haben sie bestohlen, versoffen, verschlafen, vertan", schreibt die Schriftstellerin Natalia Oss. Plötzlich sehnt sich vor allem das gebildete Volk nach Wahrheit, es giert geradezu danach, seien es die 18-Jährigen oder die 80-Jährigen. Ehrliche Wahlen, ehrlicher Präsident, ehrlicher Staat - das sind die Hauptforderungen der Unzufriedenen.

Die Bürgerwerdung der Russen hat spätestens nach dem Rollenwechsel von Präsident Dmitri Medwedew und Premier Putin im September begonnen. Die mutmaßlich gefälschten Parlamentswahlen brachten das Fass zum Überlaufen. In den sozialen Netzwerken zirkulieren die Neuigkeiten in Sekundenschnelle. Was das Staatsfernsehen meldet, wird mit derselben Schnelligkeit entlarvt.

"Wir wollen dabei sein, wollen mitgestalten", sagt Igor Sobkin in Nischni Nowgorod. Das sagt auch Ibragim Jaganow in Naltschik im Nordkaukasus. In seiner Republik Kabardino-Balkarien bekam die Regierungspartei "Einiges Russland" am 4. Dezember knapp 82 Prozent. "Es ist lächerlich, gerade hier im Kaukasus, wo so viele gegen den Einfluss Moskaus sind", sagt der 48-jährige Pferdezüchter. Dabei sein will auch Gleb Iwanow aus Moskau. Bis vor kurzem konnte der 26-Jährige noch nicht einmal den Kommunistenführer Gennadi Sjuganow vom Nationalisten Wladimir Schirinowski unterscheiden. Nun versucht er, keine Aktion zu verpassen.

Putins Rückhalt in der Bevölkerung ist drei Monate vor der Präsidentschaftswahl um knapp 20 Punkte auf 42 Prozent gefallen. Einen starken Gegenkandidaten hat er zwar nicht. Das System Putin aber hat jetzt einen politischen Gegner - das Volk. "Zur ersten Demo ging ich noch allein", sagt Igor Sobkin, "zur zweiten brachte ich eine Freundin mit. Zur nächsten schleppe ich meine gesamte Verwandtschaft hin."

Hintergrund

Bei regierungskritischen Protesten in Russland hat die Polizei am Samstag mehrere Dutzend Oppositionelle festgenommen. In Moskau kamen mindestens 70 Demonstranten kurzzeitig in Polizeigewahrsam, in St. Petersburg etwa zehn. Alle seien vor Mitternacht freigekommen, hieß es. Im Zentrum der russischen Hauptstadt hatte ein massives Polizeiaufgebot den Triumphplatz schon Stunden vor Beginn der Protestaktion abgesperrt. Dennoch sammelten sich dort etwa 200 Menschen, riefen Losungen gegen die Regierung. Auch in anderen Städten kam es zu Protesten.

Regierungschef Wladimir Putin wünschte allen Bürgern ein frohes neues Jahr - "ohne Rücksicht auf ihre politische Gesinnung". "Denjenigen, die mit Linksaußen sympathisieren, und denjenigen, die rechts stehen, oben, unten, ganz wie sie wünschen", sagte Putin in seinen Neujahrsgrüßen. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort