Das Mädchen und der Präsident

Paris · Präsident Hollande wollte mit seinem Machtwort die Debatte um das abgeschobene Roma-Mädchen Leonarda Dibrani beenden. Doch er erreichte das Gegenteil – und die Medien stürzen sich auf das Leben der Dibranis.

Die Koffer sind gepackt, Leonarda Dibrani und ihre Familie bereit. Sie wollen so schnell wie möglich wieder gehen und sich gar nicht erst einleben in ihrem neuen Haus in Mitrovica, das ihnen zur Verfügung gestellt wird. Abgesehen vom Grab ihrer Großmutter, das hier liegt, hat Leonarda keinen Bezug zu der Stadt im nördlichen Kosovo, in der sie nun heimisch werden soll. Sie kennt dort niemanden und spricht die Sprache nicht, bei einem Spaziergang wurde die Familie sogar auf der Straße angegriffen. "Mein Zuhause ist Frankreich", wiederholt die Jugendliche seit Tagen vor den Mikrofonen, die ihr bereits unzählige Male hingehalten wurden. Doch kann Frankreich ihr Zuhause bleiben, da die Behörden ihre Familie definitiv ausgewiesen haben?

Nachdem diese Frage tagelang das Land aufgewühlt hatte, beantwortete sie Präsident François Hollande am Wochenende in einer Ansprache aus dem Élysée-Palast, die auf allen Nachrichtenkanälen übertragen wurde. Leonarda dürfe zurückkommen und ihre Schullaufbahn fortsetzen, erklärte er - aber nur ohne ihre Familie. Deren Ausweisung erfolgte rechtmäßig, weil sie 2009 illegal ins ostfranzösische Departement Doubs kam und ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Auch wenn Hollande einräumte, dass es die Polizisten an Augenmaß fehlen ließen, als sie das Mädchen bei einem Schulausflug abfingen und vor den Augen der Klassenkameraden mitnahmen.

Dieses unsensible Vorgehen hatte die "Leonarda-Affäre" ausgelöst und die siebenköpfige Roma-Familie ins Zentrum eines medialen Hypes katapultiert. Bislang an ein Leben am Rande der Gesellschaft gewöhnt, stehen die Dibranis plötzlich im Rampenlicht. "Ich bin ein Fernsehstar", freut sich Leonarda in unbeschwerten Momenten, die den Kameras ebenfalls nicht entgehen. Sie erzählt von der SMS ihres französischen Freundes - wenigstens in den Abendnachrichten sieht er sie noch.

Mit seinem Angebot wollte Hollande alle zufriedenstellen: die Schüler, die zu Tausenden für Leonardas Rückkehr demonstrierten, und die Mehrheit der Franzosen, die sich dagegen aussprechen. Er sandte ein Signal an die Linken, die mehr Menschlichkeit einforderten, und zugleich an die konservative Opposition, die vor Laxheit warnte. Dass er überhaupt das Wort ergriff, hatten die Medien eingefordert, etwa die Zeitung "Libération" auf ihrer Titelseite: "Erklären Sie sich, Herr Präsident!" Hollande musste reagieren, doch zufrieden ist niemand. Auch die Dibranis nicht.

Versammelt in ihrer Küche in Mitrovica und umgeben von Kameraleuten, verfolgten sie die Rede des Staatschefs live über das Internet-taugliche Handy eines Journalisten. Der wiederum die unmittelbare Reaktion aufzeichnete. "Alleine, ohne meine Eltern gehe ich nicht", erklärte Leonarda kategorisch. "Ich danke Herrn Hollande, aber alleine - nein!" Ihr Vater wandte sich in gebrochenem Französisch an den Staatschef: "Sie sind doch auch Vater, Sie haben selbst Kinder - ich verstehe nicht, wie Sie so eine Entscheidung treffen können."

Das verstehen viele nicht. Hatte Hollande den Brand eigentlich löschen wollen, so fachte er ihn nur weiter an mit der erneuten Demonstration einer Schwäche, die seine Politik seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren prägt: die Unfähigkeit zu klaren Entscheidungen. Das Mädchen vor die Wahl zu stellen zwischen einer Rückkehr nach Frankreich, wo sie zur Schule ging und Freunde hat, und dem Leben mit ihrer Familie, erscheint kaum jemandem nachvollziehbar. Selbst aus den eigenen Reihen hagelt es Kritik, an der Form und am Inhalt von Hollandes Einmischung. Dass sich ein Präsident der Republik in einer Ansprache an eine 15-Jährige wende, erscheine ihm "surreal", lässt sich ein Mitglied der Sozialisten zitieren. Er wünsche, dass alle Kinder aus Leonardas Familie weiter die Schule in Frankreich besuchen könnten, in Begleitung der Mutter, sagte der Chef der Sozialisten, Harlem Désir. Die Linkspartei empörte sich über eine "abstoßende Grausamkeit", die in der Regierung vertretenen Grünen äußerten in einer Mitteilung "Wut, Empörung, Unverständnis". Der Chef der größten Oppositionspartei UMP, Jean-François Copé, kritisierte dagegen, der Präsident habe "der staatlichen Autorität einen fürchterlichen Schlag verpasst". Und Marine Le Pen, Vorsitzende des Front National, beklagte, Hollande habe auf den "Staubsauger-Knopf" für illegale Einwanderer gedrückt. Weil sie sich am heißen Thema Immigration und Integration nicht verbrennen will, vermeidet die Regierung eine klare Linie, abgesehen von Innenminister Manuel Valls, der als innenpolitischer Hardliner gilt und auch deshalb der beliebteste Politiker ist. Eine Mehrheit der Menschen schätzt auch jetzt die harte Haltung gegenüber den Dibranis.

War am Anfang die Bestürzung über den Umgang mit Leonarda groß, erscheinen ihre Eltern immer weniger als Sympathieträger, je mehr man von ihnen erfährt. Nicht nur stellten die Behörden mangelnden Integrationswillen beim Vater Resid Dibrani und der Mutter Gemilja fest, deren Sprachkenntnisse auch nach fast fünf Jahren in Frankreich rudimentär geblieben sind. Im Fernsehen drücken sie sich temperamentvoll gestikulierend aus. Auch gab Dibrani nun zu, bei seinem Asylantrag gelogen zu haben mit der Behauptung, die komplette Familie stamme aus dem Kosovo, weil er sich dadurch mehr Chancen auf Bewilligung erhoffte. Doch die Mutter und vier der fünf Kinder sind in Italien geboren, ohne die italienische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Das Paar ist nicht verheiratet, sondern ließ sich eine gefälschte Urkunde ausstellen. Außerdem gab es Vorwürfe von Gewaltausbrüchen des Vaters gegen Leonarda und deren ältere Schwester Maria. Der gibt allerdings nur zu, seine Frau geohrfeigt zu haben: "Sie wollte an meiner Stelle sprechen. Aber ich bin der Chef der Familie."

Bei den Dibranis handele es sich nicht "um eine Vorzeige-Familie", räumt deren Anwältin Brigitte Bertin ein. Und eigentlich sei ihre Geschichte "fürchterlich banal": "Es handelt sich ganz einfach um den Alltag von vielen Roma, die ihr Land für ein anderes verlassen in der Hoffnung auf ein besseres Leben." Leonarda hat angekündigt, sowieso bald zurück nach Frankreich zu kommen. Die Koffer bleiben gepackt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort