Das Leid der Anderen

Wieso sind manche Menschen fasziniert vom Schrecklichen? Was lässt sie zu Gaffern werden? Brauchen wir schärfere Gesetze? Über diese Fragen hat SZ-Redakteur Florian Rech mit der Tübinger Notfallpsychologin Clivia Langer gesprochen.

Frau Langer, wieso werden Menschen zu Schaulustigen und Gaffern, wenn sie etwas Schlimmes beobachten?

Langer: In der Psychologie kann man das auf zwei Arten erklären. Zum einen mit der Theorie des abwärtsgerichteten Vergleichs. Wenn ich beobachte, dass es einem anderen Menschen schlecht geht, fühle ich mich selbst besser. Bei einen Unfall erschrecke ich mich, spüre aber gleichzeitig, dass es mir gut geht, weil mir selbst nichts geschehen ist. Zum anderen stellen wir auch fest, dass in Situationen, in denen ein Mensch Hilfe braucht und viele um ihn herumstehen, eine Art Lähmung auftritt. Dann wird von niemandem Hilfe geleistet. Erst wenn jemand in der Gruppe die Führung übernimmt und Kommandos gibt wie "Du rufst jetzt den Notarzt!", wird dieses Phänomen aufgehoben. Abseits davon sind auch viele unsicher, wie sie helfen können. Man sollte einmal überlegen, ob ein einziger Erste-Hilfe-Kurs im Leben wirklich reicht.

Fördern Smartphones und unsere mediale Gesellschaft das Phänomen Gaffer?

Langer: Die moderne Technologie lädt natürlich dazu ein, Schnappschüsse zu teilen. Die Menschen stehen heutzutage in direktem Kontakt zu ihrer Umwelt. Man muss nicht erst nach Hause. Man ist live dabei und postet.

Was bedeutet das für Betroffene, zum Beispiel für einen Verletzten bei einem Unfall?

Langer: Die Position eines Unfallopfers ist schon schwer genug. Wenn gefilmt oder fotografiert wird, vervielfacht sich das Leid des Betroffenen. Man befindet sich ja in einer Situation der völligen Hilflosigkeit und hat keine Kontrolle darüber, was mit den Fotos passiert. In der Diskussion über Gaffer sollte man den Schutz der Betroffenen viel stärker bewerten.

Niedersachsen hat eine Gesetzesinitiative im Bundesrat eingebracht, die das Gaffen stärker unter Strafe stellen soll. Ist das die Lösung des Problems?

Langer: Wir haben jetzt schon Gesetze, mit denen Gaffer belangt werden können. Man muss diese Gesetze aber auch anwenden. Vor allem muss eine Bestrafung unmittelbar erfolgen. Wenn man für die Strafverfolgung Monate braucht, entsteht bei Gaffern der subjektive Eindruck, dass ihnen schon nichts passieren wird. Wenn man die Gesetze weiter verschärft, könnte es sogar sein, dass das bei den Gaffern zu einem Kick führt auf die Art: "Vielleicht schaffe ich es, etwas zu erhaschen und ein Foto zu schießen, obwohl es verboten ist und hart bestraft wird."

Wie sollte man das Problem stattdessen angehen?

Langer: Mit mehr Prävention. Schon in der Schule müsste Empathie in der digitalen Welt ein Thema sein. Kinder müssen lernen: Wenn jemand verletzt ist, muss ich helfen.

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