Das Drama auf Station "Sonnenschein"

Elversberg. Frau J. ist heute gut gelaunt. Mit kessem Lächeln sitzt sie am Frühstückstisch und mümmelt ihr Brot. Ungefragt sagt die kleine grauhaarige Dame zu dem unbekannten Besucher, sie sei "gerne hier". Hier, das ist das "Seniorenzentrum Elversberg", in dem im Frühjahr Furchtbares passiert ist

 Manche Bewohner sind bettlägerig, wie diese alte Dame, die in einen Aufenthaltsraum geschoben wurde, damit sie emotional am Gemeinschaftsleben teilhaben kann.

Manche Bewohner sind bettlägerig, wie diese alte Dame, die in einen Aufenthaltsraum geschoben wurde, damit sie emotional am Gemeinschaftsleben teilhaben kann.

Elversberg. Frau J. ist heute gut gelaunt. Mit kessem Lächeln sitzt sie am Frühstückstisch und mümmelt ihr Brot. Ungefragt sagt die kleine grauhaarige Dame zu dem unbekannten Besucher, sie sei "gerne hier". Hier, das ist das "Seniorenzentrum Elversberg", in dem im Frühjahr Furchtbares passiert ist. Zwei alte Menschen sind zu Tode gekommen, möglicherweise sogar, weil zwei Pfleger sie sadistisch gequält haben.Frau J. weiß nichts von den Vorgängen, die seit dem 19. Juni Menschen und Medien beschäftigen, und natürlich Polizei, Staatsanwaltschaft, Anwälte, vor allem auch die Führungsetage der Arbeiterwohlfahrt Saar (Awo), die das Haus in der Beethovenstraße von Elversberg betreibt. Wie bei vielen anderen der 155 Bewohner der Altenstätte funktioniert das Gedächtnis von Frau J. nicht mehr so gut, sie vergisst halt schnell wieder, was gerade passiert ist. Manche mögen dies als Gnade empfinden, weil die Auseinandersetzung mit dem unfassbaren Vorgang so erspart bleibt. Einem Vorgang, der dem Landesvorsitzenden der Awo Kummer und Stress bereitet. Paul Quirin (78), der früher mal für die SPD im Landtag saß und als Geschäftsführer die SHG-Kliniken expandieren ließ, hätte sich solch ein bitteres Ende seiner langen Laufbahn als Sozial-Manager nicht träumen lassen.

Die Awo-Pfleger Daniel R. (35) und Michael R. (25) sollen alte, hilflose Patienten auf der Spezialstation im 2. OG über Monate hinweg gedemütigt und sogar gequält haben. Ob zwei ihrer Opfer im Februar und Mai 2012 an den Folgen dieser Torturen gestorben sind, ermittelt derzeit die Staatsanwaltschaft. Genauso interessant ist aber die Frage, wieso offenbar brutale Pfleger, die sich zu Herren des Lebens aufspielten, so lange ihr Unwesen treiben konnten. Wann dämmerte den Kolleginnen und Kollegen, dass hier zwei Sadisten am Werk waren - und wann schlugen sie Alarm bei ihren Vorgesetzten?

Mittlerweile herrscht Ausnahmezustand im Seniorenzentrum Elversberg. Der damalige Pflegedirektor Edwin W. und die Pflegedienstleiterin Nicole W. sind fristlos gefeuert worden. Sie waren angeblich informiert, nach mehreren Hinweisen aus dem Kollegenkreis. Aber wer wirklich was und wann wusste, ist noch nicht geklärt. Das ist jetzt Thema für Staatsanwälte und Journalisten, aber die Vertreter der Medien sind nicht mehr gern gesehen in Elversberg. Quirin hat die Station "Sonnenschein" im 2. OG, über der jetzt pechschwarze Wolken hängen, zum Sperrgebiet erklärt. "Aus Fürsorgepflicht für unsere Mitarbeiter", wie er sagt.

Dafür dürfen die neue Pflegedirektorin Jeanette Geber und Pflegedienstleiterin Denise Bojoly reden, Nachfolgerinnen der geschassten Führungskräfte. Sie erzählen von einer "angespannten Situation" im Hause, von "Beschimpfungen", die mancher Mitarbeiter draußen erdulden müsse, wobei besonders skrupellose Zeitgenossen nicht mal davor zurückschreckten, eine Pflegekraft als "Mörderin" zu titulieren.

Die meisten der betagten Bewohner des "Seniorenzentrums" wissen nichts von diesem Drama. Für sie geht das Leben weiter wie bisher. Rosel B., die älter wirkt als ihre 74 Jahre, ist sehr zufrieden mit dem Alterssitz in Elversberg. Auch zwei alte Damen, die im Rollstuhl zum pastellgelben Speisesaal rollen, wo es heute Maultaschen gibt, fühlen sich ausgesprochen "wohl". Hier habe man Gesellschaft, sagt Hildegard H., "zuhause sind wir alleine". Wer noch mobil ist, im Rollstuhl, mit dem Rollator oder zu Fuß, der kann das umfangreiche Angebot der Awo in Anspruch nehmen: in Backgruppen und Gymnastikgruppen, in Kegel-, Spiel-, Koch- und Kreativgruppen. Doch die Hauptbeschäftigung der Bewohner heißt, wie in jedem Altenheim: warten.

Den schwersten Job haben die Pflegekräfte auf "Sonnenschein", wo die zwölf Beatmungspflegeplätze sind und das Unfassbare geschehen ist. Doch auch die Pfleger der dementen Bewohner haben es nicht leicht, zumal Demenzkranke oft "Läufer" sind, wie Menschen mit Bewegungsdrang genannt werden. Sie sitzen allenfalls so lange ruhig, wie der junge Altenpfleger Emanuel W. sie mit der Gitarre zum Singen animiert. Aber selbst die Hausbewohner in der Pflegestufe Null (keine Leistungen der Kasse) sind "oft anstrengender als die schweren Fälle aus der Pflegestufe 3", wie Direktorin Geber weiß. Denn die alten Menschen brauchen, neben der medizinischen Versorgung, vor allem Zuwendung und - Zeit. Und genau davon haben die Pflegekräfte zu wenig. Eine große Hilfe sind daher die PeA-Kräfte (für Personen mit eingeschränkter Alterskompetenz), die sich um Betreuung und Bespaßung der alten Leute kümmern.

Wie die gelernte Krankenschwester Christel R., die noch Kraft und Nerven hat, sich stundenlang mit Kranken, die (fast) alles vergessen haben, zu beschäftigen. Wer dieser Tage die Altenresidenz in Elversberg besucht, kann den Eindruck gewinnen, auch die Mitarbeiter des Awo-Hauses wünschten sich zuweilen, die Vorgänge von "Sonnenschein" ganz einfach zu vergessen.

Hintergrund

Die Arbeiterwohlfahrt (Awo) ist ein freier Wohlfahrtsverband, dessen Ursprünge in der Arbeiterbewegung liegen. Der Landesverband Saarland ist Träger von 250 Sozial-Einrichtungen, die von 3500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut werden. In den sieben Kreisverbänden und den 120 Ortsvereinen sind weitere 17 000 Mitglieder ehrenamtlich tätig. Die Awo betreibt im Saarland 25 Seniorenzentren mit rund 2500 Plätzen.

 Das Leben der alten Menschen geht weiter, als sei nichts gewesen: Blick ins Seniorenzentrum Elversberg. Fotos: Oliver Dietze

Das Leben der alten Menschen geht weiter, als sei nichts gewesen: Blick ins Seniorenzentrum Elversberg. Fotos: Oliver Dietze

Das Awo-Haus in Elversberg wurde 1963 eröffnet. Nach umfassenden Renovierungsarbeiten (1995-1997) verfügt es heute über 39 Einzel- und 59 Doppelzimmer, insgesamt über 157 Pflegeplätze. 64 Zimmer haben Balkon-Zugang. Die Zahl der Pflege- und Betreuungsmitarbeiter beträgt (umgerechnet) 43 Vollzeitstellen, exakt die Hälfte davon sind Fachkräfte (eigene Angaben). bb

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Tour de France 2012An diesem Samstag beginnt im belgischen Lüttich die 99. Tour de France. Wie in den vergangenen Jahren ist das Thema Doping ein ständiger Begleiter der bedeutendsten Rundfahrt der Welt, an der 13 deutsche Radprofis teilnehmen - auch eine
Tour de France 2012An diesem Samstag beginnt im belgischen Lüttich die 99. Tour de France. Wie in den vergangenen Jahren ist das Thema Doping ein ständiger Begleiter der bedeutendsten Rundfahrt der Welt, an der 13 deutsche Radprofis teilnehmen - auch eine