Chronik einer angekündigten Hinrichtung

Bogotá. Als Luz Marina Bernal zum ersten Mal von "falsos positivos" hört, ist ihr Sohn schon neun Monate tot. An jenem Abend im Oktober 2008 hört sie Verteidigungsminister Juan Manuel Santos in den Nachrichten von Zivilisten sprechen, die von der kolumbianischen Armee getötet und dann als gefallene Guerilleros präsentiert wurden

Bogotá. Als Luz Marina Bernal zum ersten Mal von "falsos positivos" hört, ist ihr Sohn schon neun Monate tot. An jenem Abend im Oktober 2008 hört sie Verteidigungsminister Juan Manuel Santos in den Nachrichten von Zivilisten sprechen, die von der kolumbianischen Armee getötet und dann als gefallene Guerilleros präsentiert wurden. Und in dem Moment versteht die 49-Jährige, warum ihr Sohn Fair Leonardo an einem kalten Januar-Tag so plötzlich verschwand und nie mehr heimkehrte.

Fair Leonardo, 26, starb für eine gefälschte Positiv-Meldung, wie es zynisch heißt. Weggelockt aus Soacha, dem Armenvorort vor Bogotá, Hunderte von Kilometern entfernt im Kriegsgebiet getötet, verkleidet und verscharrt von Soldaten des kolumbianischen Heeres, Mördern in Uniform, die mit seinem Tod ihr Konto und zugleich die Erfolgsstatistik des rechtskonservativen Präsidenten Álvaro Uribe im Kampf gegen die bewaffneten Gruppen aufbesserten. "Ich gebe zu, dass es diese Hinrichtungen von Zivilisten in der Armee gegeben hat", sagt der Verteidigungsminister in den Abendnachrichten damals im Oktober.

"Das überstieg meine Vorstellungskraft", sagt Luz Marina. Sie sitzt auf der Couch in ihrem engen Haus, in dem Wohnzimmer und Abstellkammer ein Raum sind. Um sich rum hat die Mutter wie einen Schutzwall Zeitungsausschnitte, Kopien und Fotos von Fair zurechtgelegt. Dann erzählt sie von der Reise ihres Sohnes in den Tod.

"Er war leichte Beute." Fair Leonardo, 1,75 Meter groß, kräftig, blaue Augen, seit Geburt behindert, hatte die geistige Reife eines Neunjährigen. "Er war zutraulich und freundlich zu jedem." Und als Unbekannte kamen und ihm Geld und einen Job versprachen, ging er mit.

Anfang 2008 ist Fair Leonardo nicht der einzige, der plötzlich aus Soacha verschwindet. Ehemalige Militärs locken insgesamt 13 Jugendliche und Männer im Alter von 16 bis 32 Jahren unter falschen Versprechungen in die 400 Kilometer entfernte Provinz Norte de Santander, wo sie ermordet werden.

Der Skandal wirbelt in Kolumbien so viel Staub auf, dass Heereschef Mario Montoya sowie 27 hochrangige Offiziere entlassen werden. Doch anstatt Montoya der Justiz zu überstellen, belohnt Präsident Uribe den geschassten Heereschef mit dem Botschafterposten in der Dominikanischen Republik. Bereits kurz nach Uribes Amtsantritt 2002 machten Menschenrechtler auf die Verbrechen der Armee an der Zivilbevölkerung aufmerksam.

Für Milena Méndez, Anwältin bei der kolumbianischen Juristenkommission in Bogotá, sind die Bluttaten an Unschuldigen Auswuchs der Politik der "Demokratischen Sicherheit", mit der Uribe versucht, den seit mehr als vier Jahrzehnten dauernden Bürgerkrieg zu beenden. Méndez zieht ein Papier aus der Schublade, eine Art Prämienliste und führt auf 15 Seiten detailliert auf, wie hoch die Belohnungen für die Beschlagnahmung von Waffen und Laptops sind, was die Regierung für den Abschuss eines Flugzeuges zahlt und wie viel für die Tötung von Kämpfern der Rebellen. Demnach hat ein Offizier Anspruch auf bis zu 1700 Euro, wenn er einen getöteten Guerillaführer präsentiert. Einfache Soldaten erhalten für einen erschossenen Aufständischen immerhin fünf Tage Urlaub.

Die Anwälte der nicht-staatlichen Juristenkommission haben zwischen 2002 und 2008 insgesamt 1205 Fälle von Hinrichtungen Unschuldiger dokumentiert, die direkt dem Militär zuzuschreiben sind. Ins Fadenkreuz der Streitkräfte gerieten nicht nur Guerilleros und Paramilitärs, sondern auch Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten und Gemeindeführer.

Acht Monate Suche

Drei Tage nach dem Verschwinden von Fair Leonardo stellt seine Mutter Vermisstenanzeige. Wochenlang durchstreift Luz Marina jede Ecke und Gasse von Soacha. Es ist die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen in einem Slum, der keinen Anfang und kein Ende hat. Ohne Erfolg. "Acht Monate habe ich Fair gesucht", sagt Luz Marina.

Die bitterere Gewissheit kommt am 16. September mit einem Anruf aus der Gerichtsmedizin. Eine Pathologin sagt der Mutter, dass bei der Aushebung eines Massengrabs die sterblichen Überreste ihres Sohnes gefunden wurden. Ein DNA-Abgleich mit der Vermisstendatei erlaube keinen Zweifel.

Von da an setzt Luz Marina die Puzzleteile zu einem Bild zusammen, das Auskunft über die letzten 100 Stunden im Leben ihres Sohnes gibt. Und je mehr Konturen das Bild gewinnt, desto klarer wird das, was der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Philip Alston, im Juni als "wohl bedachte und kaltblütige Morde aus Profitgier" bezeichnete.

Fair Leonardo verlässt am 8. Januar 2008 gegen Mittag das Haus. Er trifft seinen Häscher, der später von den Militärs umgerechnet 69 Euro Belohnung bekommen wird. Einen Abend später sitzt dieser mit Fair im Bus. 18 Stunden dauert die Fahrt von Bogotá bis ins subtropisch heiße Norte de Santander.

Nach der Ankunft in Ocaña nimmt ihm sein Begleiter den Ausweis ab und schickt ihn in eine inszenierte Straßensperre der Militärs. Diese halten Fair fest, da er sich nicht ausweisen kann. Es ist der 11. Januar. Wenige Stunden später jagen ihm Soldaten in einem Waldstück neun Schüsse in Rücken und Kopf. Dann ziehen sie dem Toten eine Guerilla-Uniform an und drücken ihm ein Gewehr in die Hand. Anschließend verscharren sie ihn und melden, einen gefährlichen Guerilla-Kommandeur im Kampf getötet zu haben.

Derzeit verantworten sich vor der Justiz mehr als 400 Offiziere und Unteroffiziere der Streitkräfte, denen über tausend Morde an Zivilisten zur Last gelegt werden. Präsident Uribe wehrt sich vehement gegen den Vorwurf, hinter den Hinrichtungen stecke System. Eine Behauptung, die für UN-Berichterstatter Alston nicht haltbar ist: "Das offenkundige und obszöne Blutbad an den Jungen aus Soacha ist nur die Spitze des Eisbergs."

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