Bürgerrechtler kontra Politprofi

Sigmar Gabriel war gut vorbereitet. "Er hat sich in herausragender und unverwechselbarer Weise um unser Land verdient gemacht - als Bürgerrechtler, politischer Aufklärer und Freiheitsdenker". Genüsslich zitierte der SPD-Chef diese Lobeshymne von Kanzlerin Angela Merkel auf Joachim Gauck, gesprochen bei dessen 70. Geburtstag im Januar

Sigmar Gabriel war gut vorbereitet. "Er hat sich in herausragender und unverwechselbarer Weise um unser Land verdient gemacht - als Bürgerrechtler, politischer Aufklärer und Freiheitsdenker". Genüsslich zitierte der SPD-Chef diese Lobeshymne von Kanzlerin Angela Merkel auf Joachim Gauck, gesprochen bei dessen 70. Geburtstag im Januar. Sozialdemokraten wie Grüne hoffen, dass ihr gemeinsamer Präsidentschaftskandidat, der keiner Partei angehört und mit Merkel sogar befreundet ist, am 30. Juni auch aus dem schwarz-gelben Lager Stimmen bekommt. Doch dürfte es für den Rostocker trotzdem nicht reichen.

Gauck selbst sagte, er sei Realist und könne zählen. Andererseits habe er in seinem Leben schon andere unwahrscheinliche Ereignisse erlebt, fügte er unter Anspielung auf die Wende in der DDR hinzu. Tatsächlich hat das schwarz-gelbe Lager in der Bundesversammlung eine noch deutlichere Mehrheit als vor einem Jahr bei Horst Köhlers Wahl, etwa 645 der 1244 Stimmen. Zudem fehlt Gauck die Unterstützung der Linkspartei. Für die ist der erste Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde offenbar nicht wählbar. Ob die Linke wieder selbst jemanden aufbietet, wollen deren Gremien am Montag entscheiden. Allerdings ist klar: "Peter Sodann wird es nicht", wie ein Sprecher sagte. Der Fernsehschauspieler ("Kommissar Ehrlicher") war 2009 ins aussichtslose Rennen geschickt worden und hatte den Linken mit einigen wirren Interviews Ärger gebracht.

Fast als vorweggenommene Gratulation konnte man gestern Gaucks Äußerungen über Merkels Kandidaten Christian Wulff verstehen. Er wünsche dem niedersächsischen Ministerpräsidenten "das Beste und eine glückliche Hand", sagte Gauck. Allerdings, als bloßer Zählkandidat fühlt sich der gebürtige Rostocker nun auch wieder nicht. Er wolle den Menschen ein Ermutiger sein und mit seiner Kandidatur deutlich machen, "dass dieser Staat nicht nur der Staat derer ist, die den Staat machen". Eben der Parteipolitiker. Gauck verwies auf seine Lebenserfahrung von Krieg und NS-Dikatur über die DDR-Diktatur bis zur friedlichen Revolution 1989 und der Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte. Der frühere Pfarrer zeigte auch vor der Bundespressekonferenz mit geschliffener Rhetorik, dass er selten eine Kirche leer predigt. Allerdings, einen Ausrutscher leistete er sich doch. Zu Horst Köhlers Rücktritt sagte er, er wisse nicht, "ob noch etwas Tieferes dahinter steckt" und lancierte ein zweifelhaftes Gerücht: "Was wäre, wenn wir erfahren, dass es eine tiefe Depression gibt?"

Gabriel überging den Fauxpas. Er spitzte die Alternative Gauck contra Wulff auf die griffige Formel zu, hier stehe "Leben gegen Laufbahn". Erneut beschwerte sich die SPD, dass die Kanzlerin statt eines überparteilichen gemeinsamen Kandidaten mit Christian Wulff aus internen Gründen eine CDU-Parteilösung gewählt habe. Mit einem "Vielen Dank für die Info" hatte Merkel per SMS an Gabriel trocken auf den Vorschlag Gauck reagiert - und Wulff aus der Taufe gehoben. "Die Chance einen neuen Weg zu wagen, wurde nicht ergriffen", rügte auch Grünen-Chef Cem Özdemir. Dass beide Parteien 1999, als sie die Mehrheit hatten, selbst einen Parteimann, Johannes Rau von der SPD, nominierten und damals die von der CDU vorgeschlagene ostdeutsche Wissenschaftlerin Dagmar Schipanski ignorierten, erwähnten die Parteivorsitzenden nicht.

In der Union bekam Angela Merkel gestern Beifall für den Vorschlag Wulff. Zahlreiche CDU-Ministerpräsidenten wie Roland Koch, Wolfgang Böhmer und Stanislaw Tillich lobten die Auswahl. Dass Sozialministerin Ursula von der Leyen nicht zum Zuge kam, spielte kaum noch eine Rolle. Wulff selbst ging im Bundesrat wieder seinen Alltagsgeschäften als Ministerpräsident nach, während in Niedersachsen schon ein Zeitplan für den Stabwechsel zum 39-jährigen David McAllister vorgelegt wurde. Und in Berlin bereitete Ersatz-Bundespräsident Jens Böhrnsen die wichtigsten Zeremonien vor: Am 15. Juni wird Horst Köhler mit einem "Großen Zapfenstreich" der Bundeswehr verabschiedet.

Hintergrund

Union und FDP werden bei der Bundespräsidentenwahl am 30. Juni eine satte Mehrheit haben. Schwarz-Gelb stehen 644 bis 646 Sitze in der Bundesversammlung zu und damit mindestens 21 mehr, als für die Wahl des neuen Staatsoberhaupts notwendig sind. Bis zum 18. Juni sollen nun die Landtage ihre Wahlleute bestimmen. Die Union wird 497 bis 499 Vertreter in die Bundesversammlung entsenden, die FDP 147. Die SPD kommt auf 333 bis 334 Sitze, die Grünen auf 127, die Linke auf 124 bis 125 und sonstige Parteien auf 14 Sitze. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Kapstadtist Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft vom 11. Juni bis 11. Juli. Vier Arenen wurden extra für das Turnier neu erbaut, darunter das Greenpoint-Stadion in Kapstadt. Aber auch landschaftlich hat die südafrikanische Region den Besuchern viel
Kapstadtist Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft vom 11. Juni bis 11. Juli. Vier Arenen wurden extra für das Turnier neu erbaut, darunter das Greenpoint-Stadion in Kapstadt. Aber auch landschaftlich hat die südafrikanische Region den Besuchern viel
Präsidenten-WahlDer von SPD und Grünen nominierte Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck will nicht als bloßer Zählkandidat ins Rennen gehen und bei allen Parteien um Stimmen werben. Christian Wulff kann indes auf die satte schwarz-gelbe Mehrheit in der B
Präsidenten-WahlDer von SPD und Grünen nominierte Präsidentschaftskandidat Joachim Gauck will nicht als bloßer Zählkandidat ins Rennen gehen und bei allen Parteien um Stimmen werben. Christian Wulff kann indes auf die satte schwarz-gelbe Mehrheit in der B