Schleierfahndung Brüssel will keine Ersatz-Schleierfahndung

Brüssel/Luxemburg · Im Schengen-Raum herrscht Reisefreiheit. Dennoch führen einige Länder regelmäßig anlasslose Grenzkontrollen durch. Jetzt greift die EU ein.

 Seit dem Wegfall der Binnengrenzen in Europa sind sie ein Streitthema: die Polizeikontrollen – an den Binnengrenzen.

Seit dem Wegfall der Binnengrenzen in Europa sind sie ein Streitthema: die Polizeikontrollen – an den Binnengrenzen.

Foto: dpa/Pawel Sosnowski

Die Rangelei auf dem Bahnhof der baden-württembergischen Stadt Kehl hat Folgen. Denn das höchste europäische Gericht nahm den Vorfall aus dem Jahr 2014 gestern zum Anlass, ein beliebtes innenpolitisches Thema Deutschlands zu behandeln: die sogenannte Schleierfahndung. Eigentlich waren die anlassunabhängigen Sicherheitskontrollen in einem Streifen von 30 Kilometern jenseits und diesseits der Grenzen 1995 abgeschafft worden, als die Schlagbäume im Schengen-Raum geöffnet wurden. Doch einzelne Bundesländer hatten Personenüberprüfungen über eine Hintertüre im Bundespolizeigesetz sowie in entsprechenden Landesregeln wieder eingeführt. Der Kläger erlebte das vor drei Jahren.

Auf dem Bahnhofsplatz von Kehl, nur wenige hundert Meter von der deutsch-französischen Grenze entfernt, wollten ihn Beamte der deutschen Polizei kontrollieren. Der Mann rebellierte und erhielt eine Anklage wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Darauf wehrte er sich mit Hinweis auf die Abschaffung der Personenkontrollen innerhalb der EU und warf den Sicherheitsbehörden vor, eine nicht erlaubte anlassunabhängige Überprüfung durchgeführt zu haben. Das zuständige Gericht in Kehl fragte den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Die dortigen Juristen machten gestern klar: Stichprobenartige Überprüfungen der Polizei dürfen in keinem Fall einer Grenzkontrolle entsprechen. Sie könnten allerdings erlaubt sein, wenn ein entsprechendes Gesetz die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Maßnahme regelt. Der EuGH schickte das Verfahren an die Kollegen in Kehl zurück, die nun prüfen müssen, ob das für die Rechtslage in Baden-Württemberg gilt. Für den Kläger ist das keine gute Nachricht. Denn das Polizeigesetz im Südwesten ist da ziemlich genau: Anlassunabhängige ­Kontrollen dürfen zur Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität sowie an „bestimmten, gefährlichen Orten“ durchgeführt werden.

Die Lage in Kehl hat sich verändert. Nach den Terroranschlägen in Paris im November 2015 führte Frankreich die Grenzkontrollen wieder ein und auch Deutschland ließ die Schlagbäume im Zuge der Flüchtlingszuwanderung herunter. Doch der Fall aus Kehl vor drei Jahren hat damit nichts zu tun, weil polizeiliche Maßnahmen wie die Feststellung der Identität auch unabhängig davon möglich sind. Allerdings hat das Urteil gravierende Folgen für die innerdeutsche Diskussion um die Schleierfahndung. Erfahrene Ermittler zweifeln nämlich an, ob mit dieser Maßnahme überhaupt sicherheitspolitische Fortschritte erreicht werden können. In Hessen wurden beispielsweise von 2001 bis 2005 im Rahmen von Stichproben ohne Verdacht 1,6 Millionen Fahrzeuge und 3,2 Millionen Personen kontrolliert. Aber lediglich 0,9 Prozent der Betroffenen waren zur Festnahme oder nur zur Ermittlung des Aufenthaltes ausgeschrieben. Im Jahr 2014 gab es in dem Bundesland genau fünf Fälle, bei denen Sicherheitsbeamte zufällig auf grenzüberschreitende Täter trafen. Bei der Gewerkschaft der Polizei sagt man offen, dass das Instrument zur Bekämpfung des Terrors nicht geeignet sei. Man könne damit höchstens „normale“ Kriminelle und Verdächtige aufspüren. Für den EuGH ist die Lage jedenfalls klar: Anlassunabhängige Kontrollen dürfen nicht zu einer systematischen Grenzsicherung durch die Hintertüre werden.

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