Brisante Einblicke in einen Krieg
Washington. Mitte Juni 2007. Fünf amerikanische Raketen zerstören in der Paktia-Provinz von Afghanistan einen Gebäudekomplex, in dem der Al-Qaida-Kommandeur Abu Laith al-Libi vermutet wird. Kurz nach dem nächtlichen Beschuss tauchen Angehörige der top-geheimen Task Force 373 auf. Statt des Terroristenführers fanden die US-Spezialstreitkräfte sieben tote Kinder
Washington. Mitte Juni 2007. Fünf amerikanische Raketen zerstören in der Paktia-Provinz von Afghanistan einen Gebäudekomplex, in dem der Al-Qaida-Kommandeur Abu Laith al-Libi vermutet wird. Kurz nach dem nächtlichen Beschuss tauchen Angehörige der top-geheimen Task Force 373 auf. Statt des Terroristenführers fanden die US-Spezialstreitkräfte sieben tote Kinder. Der Militärbericht über das Ereignis hält fest, wie sechs Männer auf der Flucht erschossen werden. Die Übrigen geraten in Gefangenschaft. Libi wird ein Jahr später bei einem Drohnenangriff der Amerikaner getötet. Der Vorfall in Paktia ist ein Beispiel aus den genau 92 201 geheimen Militärakten, die auf der Webseite des Internetportals Wikileaks eingesehen werden können. Eine Art Tagebuch, das den Verlauf des Krieges von Januar 2004 bis Dezember 2009 in den Protokollen der Militärs, Geheimdienste und Diplomaten detailliert festhält. Ungefilterte und zum Teil nicht bekannte Informationen, die ein chaotisches, oft irritierendes Bild von dem Konflikt am Hindukusch zeichnen. Zeitgleich mit der Veröffentlichung auf der Wikileak-Seite berichteten "Der Spiegel", der britische "Guardian" und die amerikanische "New York Times" über das enorme Leck, dessen Enthüllungen die Unterstützung für den Krieg weiter erschüttern könnte. Während einige Entwicklungen bereits gut bekannt sind, offenbaren die Dokumente eine Fülle neuer Einsichten, die Fragen aufwerfen. Zum Beispiel über die Aktivitäten der Task Force 373, deren Existenz bisher nicht bekannt war. Geheimen Militärakten zufolge hat die Spezialeinheit das alleinige Ziel, Führer der Al Qaida und Taliban aufzuspüren und auszuschalten. Bei ihrem Einsatz kamen wiederholt unbeteiligte Zivilisten ums Leben. Über den größten Teil dieser Vorfälle war bisher nicht berichtet worden. In einigen Fällen verbreitete das US-Militär eine andere öffentliche Version der Ereignisse, als es aus den internen Berichten wusste.Wachsender Erfolg der TalibanNeu ist die Erkenntnis, dass die Taliban-Kämpfer mit wärmesensiblen Boden-Luftraketen ausgestattet sind. Die "Stingers" ("Stachel") lassen sich von der Schulter abfeuern und erklären den wachsenden Erfolg der Fundamentalisten beim Abschuss alliierter Hubschrauber. Während die Protokolle dokumentieren, dass die Streitkräfte um den Einsatz der "Stingers" wissen, wurde die Öffentlichkeit darüber bisher nicht informiert.Das Gleiche gilt für die massive Widerstands-Kampagne, in der die Taliban-Kämpfer gezielt improvisierte Sprengkörper gegen die Zivilbevölkerung einsetzen. Nach den geheimen Akten gehen bis heute mindestens 2000 auf das Konto solcher Aktionen. Geradezu schockierend scheint das Maß, in dem der pakistanische Geheimdienst (ISI), der offiziell mit den Koalitionsstreitkräften zusammenarbeitet, hinter dem Rücken mit den Aufständischen kooperiert. Die Vorwürfe in den Berichten reichen von Attentaten auf den afghanischen Präsidenten, missliebige Politiker und Generäle bis hin zur Vergiftung der Biervorräte, mit denen die Amerikaner ihre Truppen versorgen. Von der eine Milliarde US-Dollar, die jedes Jahr aus den USA an die verbündete Atommacht fließen, finanzierte der pakistanische Geheimdienst möglicherweise direkte Hilfen für die Taliban. So soll der Widerstands-Führer Jalaluddin Haqqani beispielsweise 1000 Motorräder erhalten haben, die unter anderen bei Selbstmordanschlägen in den Provinzen Khost und Logar zum Einsatz kamen. Die interne Kommunikation zeigt, dass die USA schon seit einiger Zeit den Verdacht haben, dass Pakistan ein Doppelspiel betreibt. Das Weiße Haus reagierte verärgert über die Veröffentlichung des geheimen Aktenbergs. "Die USA verurteilen aufs Schärfste die Veröffentlichung von Geheimdienstinformationen durch Individuen oder Organisationen", beklagt sich der Nationale Sicherheitsberater des Präsidenten Jim Jones. In einer E-Mail an Reporter versucht das Weiße Haus hingegen, die Bedeutung des Lecks herunterzuspielen. Die meisten Ereignisse gingen auf die Zeit George W. Bushs zurück. > Siehe auch Seite B 6
HintergrundBei einem Raketenangriff im Süden Afghanistans sind nach Regierungsangaben in Kabul bis zu 50 Zivilisten getötet worden. Ein Sprecher des afghanischen Präsidenten Hamid Karsai kündigte gestern eine Untersuchung an, die klären solle, ob es sich um einen Angriff der Taliban gehandelt habe oder ob die Nato-Truppe Isaf für den Raketenabschuss verantwortlich sei. Unter den Toten seien auch Frauen und Kinder gewesen. afp